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Die Orthodoxie

Es sollte scheinen, als ob der Titel, den sich die orthodoxe Partei beilegt, eine Ueberhebung wäre. Orthodoxie heißt Recht­gläubigkeit, und für rechtgläubig hält sich eigentlich jede Fraction; wir werden aber bald sehen, daß nur die Orthodoxie das Recht hat, sich rechtgläubig zu nennen. Wenn auch ein Wort wie eine Münze durch den täglichen Gebrauch abgeschliffen wird, so ist doch ein Wort oft recht bezeichnend für den Begriff. Für die Gegner der Orthodoxie bedeutet das Wort nichts mehr und nichts weniger als äußerst conservative Partei, nur dafür lassen sie es gelten. Rechtgläubig meinen sie im eminenten Sinne selbst zu sein; denn wenn sie auch nicht den Buchstaben glauben, den Geist der Lehre bewahren sie. Die Reform, die Gegnerin der Orthodoxie, macht jetzt sogar das Kunststück, den Conservativen zu beweisen, daß sie eigentlich Revolutionäre wären, daß sie trotz der fast abgöttischen Verehrung, mit der sie der Bibel und dem Talmud huldigen, weder der Bibel noch dem Talmud gerecht werden, daß sie ein ganz neues Juden­thum vertreten, welches sich erst im Laufe der Zeiten entwickelt hat.- In einigen Artikeln eines reformistischen Blattes*) wird der Beweis zu erbringen versucht, daß die Orthodoxen Reformer seien. Es fehlt jetzt nur noch der Nachsatz, daß die Reformer die wahren Orthodoxen seien. Ernstlich betrachtet ist eine solche Controverse doch nur ein Kunststückchen. Denn in Wahrheit sind die Orthodoxen die einzigen, wahrhaft Rechtgläubigen und wahrhaft Conservativen: sie legen die Bibel aus, wie sie die Mischnah auslegte, sie legen die Mischnah aus, wie sie die Gemarah auslegte, sie behandeln den Talmud, wie er von den talmudischen Koryphäen immer behandelt wurde. Die religiöse Praxis ist bei ihnen äußerst minutiös und rigoros; gerechter Weise kann man ihnen durchaus

*)Unsere Orthodoxie im Lichte wissenschaftlicher Religionsbetrachtung" ~ von einem freisinnigen Theologen Nr. 10 fsl. desJüdischesLitteraturblatt" 1888.