26
'Entwicklung ist die jüdische Familie. Die historische Entwicklung hat der jüdischen Familie im deutschen Wirtschaftsleben eine eigene Stellung verschafft. Ausgehend von dem Zwang früherer Jahrhunderte, der die Juden in bestimmte Berufe gedrängt hatte, sind bestimmte Berufe auch in der neuesten Entwicklung die Haupterwerbsgrundlage der deutschen Juden gewesen. Die Pietät und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familie haben aber vor allem für den sozialen und geistigen Aufstieg einzelner Kinder aus den meisten jüdischen Familien gesorgt. Die Sorge der Eltern für die Zukunft ihrer Kinder, für den Berufsaufstieg der Söhne, für die angemessene Verheiratung der Töchter war und ist stets ein Hauptcharakteristikum der jüdischen Familie geblieben! So war das Ziel jeder Berufstätigkeit die Sicherung der eigenen Zukunft und der Zukunft des Aufstiegs der nächsten Generation. So finden wir als Charakteristikum der jüdischen Familie einen Kaufmannsstand, durchsetzt mit einer verhältnismäßig großen Zahl von Akademikern und vielfach ein starkes Streben nach Kapitalbildung und einen verhältnismäßig großen Prozentsatz von Rentnern. Wirtschaftliche Umwälzungen müssen auf solche Familien und die Schicht, die sich aus solchen Familien zusammensetzt, naturgemäß anders wirken als auf Familien und Schichten, die sich zum Beispiel wesentlich aus Landwirten, Beamten und Offizieren zusammensetzen. Ich möchte die Wirkungen darlegen, die unsere jetzige große wirtschaftliche und soziale Umwälzung auf die deutschen Juden hat Die Stellungnahme, die wir unter diesem Gesichtspunkt zur Entwicklung der deutschen Wirtschaft einnehmen müssen, um unsern Platz als Menschen innerhalb des Organismus derselben zu erhalten und zu lieben, betrachte ich als Aufgabe jüdischer Sozialpolitik.
Ist jüdische Sozialpolitik nötig? Die Frage .aufstellen heißt sie schon bejahen. Mit der politischen Umwälzung ist der Antisemitismus nicht verschwunden. Wie stets hat er sich dem Wechsel der Zeit angepaßt, und dem ewigen Ahasver folgt der ewige Haman. Aber gerade der Umwälzung entsprechend ist an die Stelle des Antisemitismus von oben, an die Stelle der Judenfeindschaft in Regierung und Staatsverwaltung der Antisemitismus von unten getreten. Der Kampf geht nicht mehr gegen die politische Gleichberechtigung, sondern gegen die gesellschaftliche. und sein Ziel ist vor allem die Zurückdrängung auf wirtschaftlichem Gebiet. Hier aber macht sich der Antisemitismus breit, in allen Schichten, Berufen und Organisationen, ohne Rücksicht auf die politische Parteistellung und oft im Gegensatz zum politischen Bekenntnis derer, die ihn betätigen. So ist es mehr als je die Aufgabe der Juden in Deutschland, um ihre Stellung innerhalb der deutschen Wirtschaft zu kämpfen. Mehr als je müssen sie aber auch über Zweck, Ziel und Mittel dieses Kampfes bewußt werden, und da dieser Kampf sich um die