Mr. 180. Ävcndblatt

Likdmiiiiddrrißisßtt Zahl-mz.

öamßaa, 1. Juli 1893,

und Handelsblatt

(Frankfurter Htndelszeitung.)

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Politische Uebersicht.

ES ist nicht gerade selten, daß man in unseren Parla­menten feine Beobachtungen anstellen kann über die Einwirk­ungen des Eigeninteresses auf den politischen Standpunkt »der wenigstens aus die Art, wie dieser vertreten wird. Es Überrascht uns kaum noch, wenn ein bekannter Rückschrittler plötzlich das Lob des freien Verkehrs singt oder wenn ein Zöllner ein ergreifendes Klagelied über die Verwahrung der Verkehrsschranken anstimmt, sobald wir wissen, daß Beide in dem jeweiligen Augenblick zufällig ein ganz spezielles Interesse an dem ungehinderten Austausch gewisser Güter haben. Den fthönsten Beweis hierfür liefern wieder einmal die Verhand­lungen des preußischen Abgeordnetenhauses über die Auf­hebung der Staffeltarife, die zu einem so merkwürdigen, dem Verlaufe der Verhandlungen aber nicht Übel entsprechenden Schluß geführt haben. Die östliche und Westliche Landwirthschaft stand sich dabei in schroffster Weise gegenüber; die eine klagte die andere der Begehrlichkeit an und die Stimmung aus dem Reichstagswahlkampf, in dem vir soviel über diesolidarischen Interessen" der Landwirthe im Norden und Süden gehört haben, war vollständig ver­flogen.Ohne die Staffeltarife so klagten die Ostelbischen geht die Landwirthschaft im Osten unfehlbar zu Grunde." .Die Staffeltarife ruiniren nicht nur unsere Landwirthschaft, stmdern auch unsere Mühlenindustrie" so klang das Echo ' aus dem Westen. Eine Versöhnung dieser Gegensätze, eine Hineintragung allgemeiner Gesichtspunkte, reine grundsätzliche ! Stellungnahme zur preußischen Tarifpolitik, die doch so nahe lag, wurde nicht versucht. Die Linke enthielt sich eigenthüm­licher Weise des Eingreifens überhaupt, wenn ihr nicht der Schluß der Debatte das Wort abgeschnitten hat, sodaß ledig­lich der einseitige Jntereffenstandpunkt zur Geltung kam. Sehr hübsch war das Wort eines Ostelbiers ; dem Westen genügen nicht Schutzzölle und Ausnahmetarife, er wolle auch «och einen Schutzzoll gegen die eigenen Landsleute.

In sachlicher Beziehung bot die Debatte wegen des Man­gels allgemeiner Gesichtspunkte wenig Bemerkenswerthes. Daß die Landwirthschaft wie die Mühlenindustrie im Westen und Suden sich durch den Staffeltarif schwer geschädigt er­achtet, weiß man längst. Ostpreußisches Getreide, Mehl lvnd Malz dringt in größeren Mengen in ihre bisherigen Absatzgebiete und sie muß es versuchen, den durch die Fracht- 1 ermäßignngen ermöglichten billigen östlichen Offerten zu be­gegnen. Die Mühlenindustrie ist dabei wohl noch härter betroffen, als die Landwirthschaft selbst, doch leidet diese wie­der unter dem Rückgang der kleinen und mittleren Mühlen, die ihre besten Abnehmer waren. Es ist nur merkwürdig, daß keiner der Redner auf die eigentliche Ursache einging, die jetzt das ostpreußische Getreide in Massen nach dem Süden und Westen treibt, wovon man früher nichts wußte. Man hat es aber sorglich vermieden, die Getreidezölle zu erwähnen, durch die den Ostpreußen ebenso wie einem Theile der süd­lichen Landwirthschaft der bisherige Markt im Auslande entzogen wurde. So sind es wiederum die Zölle, deren Wirkung hier ein Theil der Landwirthschaft bitter empfindet; sie machen die Staffeltarife für den Osten so begehrens-, für den Westen so Hassenswerth. Wird einmal der zweite Herzenswunsch der Ostelbier erfüllt und der Identitätsnach­weis ebenfalls aufgehoben, dann werden die Verhältnisse westlich der Elbe sich noch weiter verschlechtern, es wird aber auch dann das Urtheil über die Getreidezölle als eigentliche Ursache dieser ungesunden Verschiebungen wesentlich berichtigt werden.

Der Eisenbahmninister Thielen hat am ersten Tage der Verhandlungen den Standpunkt der Regierung sehr ein­gehend, wenn auch nicht sehr bestimmt dargelegt. Die Staats- eisenbahn-Vcrwaltung ist danach nicht zu der Ueberzeugung gekommen, daß der wirthschaftliche Einfluß der Staffeltarife für Getreide ein überwiegend schädlicher ist; auch für die Mühlenfabrikate und Malz hat sie diese Ueberzeugung noch Nicht gewonnen, läßt aber die Hoffnung zu, daß die letzteren von der Beförderung zu den ermäßigten Sätzen vom 1. Oktober ab wieder ausgeschlossen werden. Beim Malz sei die ausländische Konkurrenz thatsächlich bedenklich geworden, sonst aber ist der Minister der Meinung, der Staffeltarif stärke die inländische Produktion gegen die ausländische Kon-

kurrenz, weil er das wirksamste Ausgleichsmittel zwischen Mangel und Ueberfluß sei, er leitet ferner die Berechtigung der Staffeltarife aus der geographischen Gestaltung Preußens und der Vertheilung der Industrie im Westen, der Land- wirthschaft im Osten ab.

Die ministerielle Erklärung hat im Landtag nur teil­weise befriedigt; sie wird auch im Lande auf Widerstand stoßen. Der Osten, der immer rücksichtslos in der Vertret­ung seiner Sonderintereffen ist, darf sich kaum beklagen, wenn der Westen seinem Beispiele folgt und den Schutz der nationalen Arbeit geographisch noch etwas enger gezogen haben will. Umgekehrt würde der Osten gegen Staffeltarife zu Gunsten des Westen's sicher mit einer ganz anderen Heftigkeit zu Felde ziehen. Er erntet also nur, was er selbst gesäet hat und hat nicht das Recht, sich überBegehrlichkeit" zu be­schweren. Prinzipiell haben wir zu den Staffeltarifen wiederholt Stellung genommen. Wir sind gegen sie aufge­treten, soweit sie den Charakter von Ausuahmetarifen an sich tragen und haben angesichts der Verzinsung der preußischen Staatsbahnen, angesichts der Erfahrungen, die man mit Tarifermäßigungen gemacht hat, sowie angesichts der wirth- schaftlichen Lage die allgemeine Verbilligung der Tarife ver­langt. Ein solches Versprechen hat auch die Regierung s. Zt. im Kölner Bezirkseisenbahnrath abgegeben, wo sie erklären ließ,es walte bei ihr das Bestreben ob, auf dem Grundsatz der Getreide-Staffeltarife zu billigeren allgemeinen Tarifen zu gelangen." Es ist sehr auffallend, daß der Eisenbahn­minister sich gerade hierüber ausgeschwiegen hat, da die be­gründeten Angriffe auf die Staffeltarife in dem Augenblick verstummen müßten, wo es sich nicht mehr um eine aus­nahmsweise Vergünstigung für den Osten, sondern um eine Reform großen Stils handeln würde. Minister Thielen hat im Gegentheil in einem Nachtrag zu seiner ersten Rede sich eher als Gegner einer allgemeinen Reform erklärt. So wird die Stellungnahme der preußischen Staatsregicrung im Westen und Süden verstimmen und auch im Norden und Osten nicht allgemein befriedigen, weil sie geeignet ist, berech­tigt gewesene Hoffnungen zu enttäuschen.

Der französische Ministerpräsident Herr Dupuy hat am Donnerstag eine empfindliche Niederlage erlitten; zwar nur im Senat, aber die Sache ist für ihn darum doch empfind­lich. In Versailles sollte das übliche Jahresbankett zu Ehren des Revolutionsgenerals Hoche gefeiert werden. Im vorigen Jahre waren die R alliirten zum Bankett zugelassen worden; in diesem Jahre setzten es die Radikalen durch, daß nur Eingeladene sollten Theil nehmen können; die Ralliirten erhielten natürlich keine Einladung. Unter diesen Umständen hielt es der ebenfalls eingeladene Präfekt Bargeton für seine Pflicht, bei der Regierung anzufragen, ob er der Einladung Folge leisten solle ober nicht. Herr Dupuy erwiderte, er solle einer so ausschließlichen Feier fern bleiben. Da aber die Radikalen den Vertreter der Regierung nicht missen wollten, so schickten sie den Abgeordneten Hubbard an den Ministerpräsidenten, der darauf an den Präfekten, eine Stunde vor der Feier, den Befehl telephonirte, dem Bankett beizuwohnen. Der Präsident telephonirte, man lasse ihn da eine sehr häßliche Rolle spielen, der Ministerpräsident be­stand auf seinem Befehl, der Präfekt erwiderte, das heiße seine Demission erzwingen wollen, und da der Ministerpräsi­dent erwiderte, das sei ihm gleichgültig, so gab der Präfekt sofort seine Demission. Ueber diese Affaire stellte der Senator Maret eine Anfrage an den Ministerpräsidenten und hob in seiner Rede namentlich hervor, diese Behandlung eines hohen Beamten müsse auf das ganze Verwaltungspersonal den schlechtesten Eindruck machen, insbesondere da es sich um einen so verdienten Präfekten handle. Herr Dupuy er­widerte ziemlich gereizt, er sei anfänglich schlecht unterrichtet gewesen, habe später auf Grund besserer Kenntniß seine Weisung geändert und der Beamte habe immer zu gehorchen. Dem Senat gefiel diese Antwort gar nicht; die Anfrage wurde durch Monis in eine Interpellation verwandelt und dadurch auf das politische Gebiet gespielt. Der vorliegende Fall, führte Monis aus, sei nicht vereinzelt; in gewissen Blättern werde die Regierung aufgcfordert, noch vor den Wahlen im Verwaltungspersonal anfzuräumen, und diesem

Verlangen scheine der Ministerpräsident zu entsprechen; er wolle also auf die Wahlen drücken. Monis schlug schließlich die einfache Tagesordnung vor, jedoch mit der ausdrücklichen Motivirung, daß darin kein Vertrauensvotum für die Re­gierung liegen solle. Ter Premier erwiderte, er nehme die einfache Tagesordnung, aber nicht die Motivirung an. Auf der Aeußersten Linken versuchte man es daun mit Tagesord­nungen, in denen die Haltung der Regierung gebilligt werden sollte, aber sie wurden angesichts der feindlichen Haltung des Senats noch vor der Abstimmung zurückgezogen. Die ein­fache Tagesordnung im Sinne Monis' wurde hierauf mit 149 gegen 4 Stimmen angenommen. Der Vorgang be­weist, daß der Senat Herrn Dupuy nicht traut, und daß dieser in der That die Radikalen begünstigt. Er hat sie eben zur Fortsetzung seiner Coueeutrationspolitik, welche die Vor­bedingung seiner Ministerexistenz ist, dringend nöthig. Viel­leicht sind die Wähler anderer Ansicht.

Teutsches Reich.

* Berti», 30. Juni. In einem, di« Wahlerfolge der Antisemiten erörternden Artikel gelangt das in Köln am Rhein erscheinende Organ fürBildung und Besitz" zu folgendem Schluß:Wenn die Sonnemann nnd Genossen aus blinder Gehässigkeit gegen den gemäßigten Liberalismus erklären, ihr natürlicher Platz sei an der Seite der Sozialdemokraiie, sie küßten für die Sozialdemokratie den Kampf ebenso entschieden aufnehmen, wie für ihre eigene Sache, so dürfen sie sich über die Ausbreitung des Antisemitismus nicht wundern." Wenn wir im Stile derKöln. Ztg." reden wollten, so würden wir diese Bemerkung als eine Musterleistung auf dem Gebiete der Ver­leumdung nnd der Verdrehung der Thatsachen bezeichnen. Die bürgerliche Demokratie im Allgemeinen und Herr Sonnemann im Besonderen haben, wie auch das Kölnische Brcitegasjen-Blatt recht wohl weiß, niemals im Sinne, wie es die Kölnerm aufge- saßt wissen will, erklärt, daß ihrnatürlicher" Platz an der Seite der Sozialdemokratie sei, sondern sie haben lediglich das gethan, was ihnen unter den gegebenen Umständen in gleichem Maße Logik und Konsequenz wie Selbstachtung vorschrieben, sie haben im Allgemeinen dem Gegner der Militärvorlage ihre Unterstützung geliehen; sie deshalbblinder Gehässigkeit gegen den gemüßigten Liberalismus" zu zeihen, ist einfach thöricht oder vielmehrge­hässig". Eine geradezu widerwärtige Heuchelei liegt aber gerade seitens derKöln. Ztg." vor, wenn sie die Demokratie wegen ihres Eintretens für sozialdemokratische Kandidaten anrempelt. Hat denn das Organ der rheinisch-westfälischen Groß-Indu­striellen ganz vergessen, daß seine Partei in zahlreichen Füllen chsen und insgeheim für den sozialdemokratischen Kandidaten eingetreten ist, und glaubt es etwa, daß über seine Hetzereien gegen Eugen Richter zu Gunsten der Sozialdemokratie bereits Gras gewachsen sei? Es gehört wirklich ein ganz außerordent­liches Maß von Unverfrorenheit und von Zuversicht in die Ge­dächtnißschwäche seiner Leser dazu, um in der Position derKöln. Ztg." anderen Leuten ihr Eintreten für einen sozialdemokratischen Kandidaten zum Vorwurf zu machen. Die national­er b e r a l e u Bundesge nofsen schildert die junkerliche K r e uz - Z e i tuii g" wie folgt:

Bald sind sie als Antisemiten ausgetreten, bald haben sie sich in die philosemitische Haut gesteckt, hier schienen sie Freunde der Landwirthschast und der Doppelwährung zu sein, dort sind sie für den Freihandel und sogar für den Vertrag mit Rußland einge- treteu, wie von gegnerischen Organen ohne Widerspruch, soweit wir sehen versichert worden ist, nicht etwa in verschiedenen Wahl­kreisen, nein vielfach in denselben, je nachdem die ländlichen oder die städtischen Wühlervor der Klinge" waren. Be anders der Bund der Landwirthe" mag sich daher auf Ueberraschungen im Reichstage gefaßt machen."

Diese Charakteristik vonnahestehender Seite" ist grausam, aber durchaus zutreffend. Das Herrenhaus hat bekannt­lich dem Paragraphen des Gesetzentwurfs betr. die Aufhebung direkter Staaissteuern, welcher die Rückzahlung der f. Z. er­haltenen Entschädigung für die Aushebung der Grundsteuer- freiheit festsetzt, seine Zustimmung ertheilt. Angesichts dessen schreibt dieVolksztg.":

Da diese Rückzahlung nun einmal gesetzlich festgesetzt ist, so wird nun die interessante Frage zur Entscheidung gelangen müssen, ob der preußische Ltaat auch das Recht hat, die Summen zurück- zusordern, welche in den neuen Provinzen vor der Annektion als Entschädigung bei der Veranlagung zur Grundsteuer gezahlt wor­den sind? Nach unserer Ansicht ist dies unzweifelhaft, denn der preußische Staat ist der Rechtsnachfolger der früheren Regierungen, doch scheint man nicht allerorten d eser Ansicht zu sein. Wir haben schon bei der Einbringung der Vorlage darauf aufmerksam gemacht, daß in dem Verzeichnis; der Kreise, in denen Güter liegen, welche Entschädigungen empfangen haben und nun zurückzahlen sollen.

der schleswig - holsteinische Kreis Lauen bürg fehlt, obgleich in demselben kurz vor der Einverleibung in Preußen für die Veranlagung einer früheren Domäne zur Grundsteuer eine recht bedeutende Entschädigungssumme an den neuen Besitzer gezahlt worden ist.

Die R e i chs ko m m i f fi on für Ar beiter-Stati­stik ist zu mehrtägigen Berathungen hier zusammengetreten. Gestern hielt der Au-schuß eine Sitzung, heute wird das Plenum feine Arbeiten beginnen. Der Ausschuß berieth über den Antrag Siegle wegen der Lohnstatistik; es fall zunächst der Versuch ge­macht werden, einige Berufsgenossenschaften zur Mitwirkung bei der Herstellung einer solchen Statistik zu gewinnen. Das Plenum wird sich mit den Verhältnissen des Hilfspersonals im Handels» und Müllerei-Gewerbe zu beschäftigen haben. Die Eisen» bahn-Tarif-KommissionundderAusfchußder Verkehrs-Interessenten, die in Heidelberg am 17. und 19. Juni getagt haben, werden die nächste Sitzung am 29. September in Dresden abhalten.

O Dresden, 80. Juni. Der in nächster Zeit erscheinende Jahresbericht der hiesigen Handels- und Gewerbekammer spricht sich über die Lage der Industrie da! in aus, dieselbe sei im 2UI gerne inen zwar nicht als erfreulich zu bezeichnen, gebe jedoch zu Hoffnungen auf Besserung des Geschäft« Anlaß.

K München, 30. Juni. Die aus Militärs und wissen­schaftlichen Autoritäten zusammengesetzte Kommission ist, wie schon telegraphisch gemeldet, bei den ersten.Erklärungen über dir Ursache der Massen-Erkrankungen int Infan­terie - L e i b r e g i m en t stehen geblieben. Auch nach der neuesten Erklärung bleibt es bestehen: die Kaserne ist gesundheits­schädlich an sich und es ist gesundheitsschädlich in ihr gewirth- schastet worden. Der"Gesundheitszustand in München ist an sich ein fehr guter; die Erkrankungen sind beschränkt auf die Bewoh­ner der Kaserne und jene Mannschaften, die aus der Kasernen­küche ihre Menage erhielten. Wie sich die traurigen Zustände herausbilden und die Katastrophe einen solchen Umfang gewinnen konnte, ist noch immer ein Räthsel, zu dessen Lösung der Landtag beitragen sollte. Ob er es wagt, beim Militäretat die Kon­sequenzen zu ziehen und für das Wohl der Sühne des Lande» das Erforderliche und Ausreichende vorzukehren? Nach einet Lokalnotiz derNeuest. Nachr." über einen Besuch, den bet Prinzregent in dem Nothstandskasernement der gesund Geblie» benen abstattete, muß das neue Kascrnement abermals durchaus unpassend und erst recht wieder gesundheitsgefährlich fein. Den, bei Nacht geht die Temperatur in den Räumen nicht unter 2s Grad herunter; der Regen schlägt durch. Da sind also die neue lichen Mittheilungen derMünchener Post" nicht nur bestätigt, sondern noch übertroffen. Ueber die von derPost" behauptet» größere Sterblichkeit hat das Krieg-ministerium noch nichts ver» lauten lassen; es hat nur in anderem Zusammenhang die Sterb» lichkeit ans 17 angegeben, wozu seitdem noch zwei Todesfälle gekommen sein sollen. Ueber die Influenza und andere in be» deutender Zahl vorhandene Krankheitserscheinungen äußerte sich die Kundmachung aus der Kommissionsberathung nicht, die deshalb her Ergänzung bedarf.

S Schlettstadt, 30. Juni, Die Enthebung des Bürger­meisters Spieß vom Amte, die im zweiten Morgenblatt tele­graphisch gemeldet wurde, hängt mit.der letzten Reichstagswahl zu­sammen. Spieß, der zugleich Mitglied der LandeSauSfchuffeS ist. soll Wahlagitation für einenregierungsfeindlichen" Kandidaten getrieben haben. Die. nationalliberaleStr. Post" bemerkt hierzu:. Es wäre nichts unrichtiger, als in Herrn Spieß einen offenen ober verkappten Protestler suchen zu wollen. Herr Spieß ist ein strenger Katholik, von diesem Standpunkte aus ist seine politische Haltung zu beurtheilen. Wir sind sehr häufig Gegner, und zwar lebhafte Gegner der Haltung des Herrn Spieß im Landesausschusse gewesen, zuletzt noch bei der leidigen Frage der Erhöhung des Schulgeldes, aber das kann uns nicht verhindern, offen auszusprechen, daß wir ihn stets für einen durchaus loyalen Staatsbürger und regierungs­freundlichen Politiker gehalten haben. Mit grundsätzlicher Oppo­sition hat Herr Spieß niemals etwas zu schaffen gehabt. Auch al« Bürgermeister von Schlettstadt hat Herr Spieß große Verdienste: er hat stets mit ebensoviel Uneigennützigkeit als Unermüdlichkeit gearbeitet und sich insbesondere uni die Entwicklung des Schul­wesens verdient gemacht." Die Amtsenthebung dürfte danach im Zusammenhang mit der, gleichfalls anläßlich der Wahlen erfolgten Auflösung des Fcdelta-Vereins in Straßburg und mit den Vor­gängen anläßlich der Straßburger Wahlexeesse, wo die Polizei offenbar ihre Befugnisse weit überschritten hat, kaum einen guten Eindruck bei der reichsländischen Bevölkerung machen. Herr Spieß scheint sich einer ungeschickten Aeußerung i« der Wahlagitation schuldig gemacht zu haben.

Serbien.

Belgrad, 30. Juni. In der S k Up sch t i na gelangte bet Ausschußbericht Über den d eutsch - serbischen Hand els- vertrag zur Verlesung. Der Bericht befürwortet die Annahme dieses Vertrages sowie das Uebereinkommen über Muster- und Markenschutz. In einem anderen Bericht de« Finanzausschusses wird beantragt, daß die im vorigen Jahre von der Regierung

Kleines Feuilleton.

Frankfurt a. M., 1. Juli.

lGab es im 11. Jahrhundert Firmenschilder Wir erhalten folgende Zuschrift:Die bei Besprechung eines Wildes von derFranks. Ztg." angeregte Frage:Gab eS im 11. Jahrhundert Firmenschilder ?" will ich nicht unterlassen, mit einigen flüchtigen Andeutungen zu beleuchten. Daß im 11. Jahrhundert in ter englischen Stadt Coventry noch an keine modernen Firmen­schilder zu denken gewesen ist, wird jeder Kenner der Verhältnisse ohne Weiteres zngeben, da um diese Zeit noch nicht einmal die Edelleute ihre Wappen hatten. Zwar sind Aushängeschilder eine ziemlich alte Sache und schon inPompeji anzutreffen; hier Bildet zum Beispiel ein viereckiges Täfelchen in gebranntem Thon, zwei Männer darstellend, welche eine Amphora an einer Stange tragen, das Signum einer Weinkneipe, ein Kind, das eine Kuh melkt, das einer Milchhandlung, eine von einem Esel gedrehte Mühle daS eines Bäckers. Die Eingänge der Schänken schmückten die alten Römer wie wir mit Büschen und Epheuranken. Notabene: Coventry soll schon zur Zeit der Römer eine Stadt gewesen sein; wegen ihrer alterthümlichen Sitten stand sie später im Rufe von Schilda und Abdera. Aber von solchen Thontäfelchen bis zu Firmen­schildern ist der Weg weil, selbst wenn man dem Coventry des 11. Jahr­hunderts eine Kultur wie die pompejauische zugestehen wollte; die Leute konnten damals kaum schreiben, geschweige denn drucken. Sie waren auf eine Art Sprache ohne Worte angewiesen, von der sich übrigens auch die pompejamschen Signa noch nicht entfernen. Die­selben entsprechen etwa den drei goldnen Kugeln, den three golden balls, die in England ejn Psandleihgeschäst anzeigen, angeblich von den Mediceern her, die im 15. Jahrhundert Überall den Peters- pfennig erhoben und Lombardgeschäfte machten und deren Wappen sechs Kugeln in goldnem Felde waren oder den Straußeneiern, die in den Schaufenstern von alten Apotheken liegen oder der großen Scheere, die vor einer Schneiderwerkstatt hängt; aus dem Hause, aus dem der vorwitzige Bäcker herauslugte, um sich die Lady Eodiva zu betrachten, hing vielleicht eine Bretzel. ES sah recht malerisch in dem mittelalterischen Conventry aus: hier starrte ein rothbemalter Drache, ein schmeckender Wurm, von einer Eisen- stange gehalten, mit geringeltem Schwänze in die Luft hier guckte ein Türkenkopf mit seinem Türkenbart hervor dies Hans war den Drei Königen geweiht, dort hauste der Goldne Bär, dort stand das Einhorn, dort eine Lilie. Nun begannen allmählich die Grafen und Barone ihre Wappen anszubtlden. Wie gesagt, geschah dies erst im 12. Jahrhundert, di« meisten Geschlechter deS hohen Adels können ihre Wappenbilder erst vom 13. Jahrhundert an Nachweisen; die Sagen Über den älteren Ursprung einzelner Wappen sm» sämmtlich Fadeln, ein Wappensiegel deS 10. Jahrhunderts ist immer unecht. Aber sofort wollten die Handwerker, die das höfische Wesen gern nachäfften, auch ihre Wappen haben; und so hiugen denn zum Beispiel die Weißbäcker an ihren Jnnungs-

stuben die gekrönte Bretzel, von zwei schreitenden Löwen gehalten, auf, diese» Wappen sollte ihnen Kaiser Karl IV. im Jahre 1348 wegen ihres Löwenmuthes verliehen haben. Jetzt entstanden auch in Handwerkerkreisen Fabeln über den Ursprung ihrer Wappen; in der Thidreks-Saga, einem altnordischen Prosaroman etwa vom 13. Jahrhundert, bekommt Wittig, der Sohn des Schmieds Wieland, von seinem Vater einen Schild, der war weiß und darauf mit rother Farbe Hammer und Zange gemalt, weil sein Vater ein Schmied war. Solche Handwerkerwappen wurden nun auch vor den Läden als Aushängeschilder angebracht, und daraus entstanden die mo­dernen Firmenschilder, die nun blos noch einfache Tafeln mit dem Namen des Inhabers und der Angabe des Handelsartikels sind. Das ist freilich etwas nüchtern und nicht ganz im Stil des frühen Mittelalters; aber da die Lady Godiva nichts anhatte, so glaubte wohl der Maler, er müsse auch die Straße des malerischen Schmucks entkleiden. Oder er fürchtete etwa, man könnte die Straße mehr ansehen als die Lady. Und dennoch ist es geschehen. Leipzig, 30. Juni 1893. RudolfKleinpau l."

fWürdiguug Karl Lachmanrr's.j DieBerliner Akademie der Wissenschaften beging vorgestern die jährliche ErinnerungSseier an ihren Stifter Leibniz. Den Festvortrag hielt Prof. V a h l e n , der neue Sekretär der philolo­gisch-historischen Klasse der Akademie. Znm Gegenstände seines Vortrages wählte er, wie wir der Voss. Ztg." entnehmen,Das Leben und Schaffen von Karl Lachmann", dessen lOOjähriger Geburtstag auf den 5. März des laufenden Jahres fiel. In der Einleitung erinnerte er daran, wie Lachmann alsbald bei seinem Eintritt« in di« Wissenschaft, erst 22 Jahr« alt, zwei ihrem Gegenstand« nach weit von einander abliegende, aber in ihrem Werthe gleich große Leistungen darbot, einmal Properz-Stu- dien, sodann Untersuchungen Über das Nibelungenlied. Die beiden Arbeiten kennzeichnen von vornherein bi« zwiefache Richtung, nach denen hin bie Arbeit Lachmann's sich entfaltete. Was Lachmann's Entwickelung angeh«, so nehme man gemeinhin an, baß Beneke ihn wesentlich beeinflußt habe. Bei genauerem Einblick aber zeige es sich, daß das ungewöhnliche Schaffen gerade bei Lachmann in der genialen Kraft der ursprünglichen Veranlagung seine Wurzel habe und daß von fremdem Einfluß bei ihm nichts merklich ist. Viel voraus habe Lachmann vor vielen altphilologischen Studien­genossen seiner Zeit darin gehabt, daß er außer einer guten Kenntniß des Griechischen und Lateinischen auch Fertigkeiten in den neueren Sprachen zur Universität mitbrachte. Gleich­wohl war Lachmanns Sinn durchaus nicht auf die Erforsch­ung des rein Sprachlichen gerichtet. Sein Interesse und seine Neigung ging vielmehr dahin, die Sprache gerade in der Eigenheit zu verfolgen und zu studiren, wie sie sich ihm bei dem einzelnen Schriftsteller, dem Dichter oder Prosaiker, individuell geartet, dar­bietet. ES war eine Art von ganz besonderer Fähigkeit des Nach- Empfindens, die Lachmann zu eigen war und die einen wesentlichen Grundzug am ihm darstellt. Aus diese eigenartige Begabung seien ge­rade die hervorragendsten Leistungen Lachmanns zurückzuführen. Sie

gebe sich in bet ganzen Breite seines Schaffens zu erkennen. Ver­möge ihrer fei es für Lachmaun möglich gewesen, Autoren aus nicht ausreichender Ueberlieferung im Einzelnen so zu ebiren, wie bessere, ihm nicht bekannte,später anfgefunbene Hanbschriften es verzeichnen. Auch gerade die Arbeiten über das Nibelungenlied und die Ilias, die unter Lachmanns Leistungen obenan stehen, verdanken dieser Fähigkeit des Nach-Empfindens ihre Entstehung: denn nur ver­mittelst dieses habe Lachmann di« Zerlegung der Epen in ihre Grund-Bestandtheile durchzuführen vermocht. Bahlen schloß mit einem Hinweis auf Lachmanns nentestamentliche Arbeiten, indem erlauf die Bedeutung der Leibniz-Feier hinlenkend, daran erinnerte, daß schon Leibniz verlangt habe, daß man für eine sachgemäße Aus­gabe der Urkunden der christlichen Religion Sorge tragen müsse.

+ sErinnerungen an das Cafe Tortoni.j Mon schreibt uns ans Paris, 30. Juni : Das CaföTortoni, welches wie bereits kurz mitgetheilt, heute nach fast hundertjährigem Bestehen geschlossen wird, war geradezu ein« Weltberühmtheit. Kein Wunder daher, daß es wie alle übrigen großen Todten behandelt wird und daß fast alle Zeitungen heute demselben lange Nekrologe widmen. Auch Kaffeehäuser haben ihre Geschichte nnd die deS Caft Tortoni en plein Boulevard im Centrum des Pariser Lebens und Trei­bens ist von ganz besonderem Interesse. DaS Cafe Tortoni ist im Jahre 1804 von einem Italiener Velloni gegründet worden. Velloni war der erste italienische Glacier, der in Paris sein Glück zu machen suchte. Er eröffnete außer dem Cafe an der Ecke der Rue Taitbont mehrere andere Etablissements in verschiedenen Quartieren von Paris. Das war zu viel, und er war daher gezwungen, fein erstes Cafe auf dem Boulevard des Italiens seinem früheren Geschäfts­führer Tortoni zu überlassen. Von dem Augenblick an wird das Cafe der Sammelplatz der eleganten Welt und aller politischen unb literarischen Berühmtheiten. Tortoni war sehr stolz auf feine hoch aristokratische Kundschaft unb besonders auf feinen Stammgast Tallehrand, zu besten Ehren man ein Zimmer in der ersten Etage, wo er zu sitzen pflegtele petit salon bleu de Talleyrand nannte. Talleyrand, der ein großer Liebhaber der Billardspiels war, sah hier im Cafe Tortoni Stunden lang zu, wenn der be­rühmte Billardspieler Spolar carambolirt«. Außer Tallehrand be­suchten auchdie Könige der Mode", der Comte de Monirond unb der Comte d'Orsay bas Cafe Tortoni unb unter ben vielen anderen berühmten Habitues wollen wir nur Lord Seymour, Thiers, Doeteur Veron (Direktor der Oper und deSConstitutionnel", Khalil- Bey, Ganesco Manet, Villemestant, Rochefort, Albert Wolff nennen. Alle die glänzenden Stammgäste aus Tortonis Blüthezeit sind dahingegangen. Einer allein bleibt übrig Einer, der mit all' den Großen znsam men am Tisch gesessen und während derheure verte den Absinth geschlürft, welcher aus den berühmten Tönn­chen kam, in das seit vierzig Jahren dort der Absinth gefüllt wurde und dessen Holz bis in die letzte Faser gesättigt war von den Düften des grünen Trankes. Dieser Eine ist A u r ö l i e n S ch o l l, der letzte aus der Generation der großen Bonlevardiers,le Parisien, qui s en va. Man hat ihm die Trauernachricht auf seinen Land­

sitz hinaus mit aller Schonung gemeldet, und allsogleich ist et in di« Stadt geeilt, Jagdflinte und Ruder im Stich lastend, um die Feder anzufetzen zu einem Nekrolog, der von allen Schauern der Wehmuth durchzittert ist. Und das wimmelt natürlich von Anek­doten ! D a ist zunächst die Geschichte von Choquart, bie sich bei Tortoni abgespielt. Ein Herr in einer Ecke liest denConstitutionnel" Choquart ruft:Kellner! ben Constitutionnel!" Der Kellner: Er ist in der Hand." Fünf Minuten Zwischenakt. Choquart (un­geduldig) :Kellner, ich habe ben Constitutionnel verlangt!' Der Kellner:Er ist noch immer in berHanb." Choquart «in groß«r Teufel mit messerscharfem Profil nnd mit Schnurrbartspitzen lang- gewichst, wie Fühlhörner von Insekten Choquart also steht auf, geht aus den Herrn zu und reißt ihm das Journal ans der Hand ; der Herr wird böse, man wirst sich Injurien an den Kopf. Zeugen­wechsel, und am nächsten Morgen erhält Choquart mitten in bi* Brust einen guten Degenstich, der ihn für einen Monat mindesten« aufs Krankenbett streckt. Kaum steht er wieder auf seinen Füßen, so begibt sich Choquart, bleich und abgemagert, zu Tortoni und be» merkt seinen Gegner, der dasselbe Journal am selben Tische liest. Kellner, "hebtChoqnart wieder an,den,, Constitutionnel. Er ist in der Hand." Wieder fünsMinuten Geduld. Dann erhebt sich Choquart, Pflanzt sich vor dem Herrn auf und sagt:Ah, hören Sie, wollen Sie vielleicht noch eine Lektion?" Auch folgende- Bonmot, das dem großen Witzbold Botrel entstammt, kann sich hören lassen. Botrel sprach mit Hubert be la Pierre über Poli­tik. Der letztere entwarf eine furchtbar pessim istijche Schilderung der europäischen Situation; ein allgemeiner Kriegsbrand mit Schlachten auf allen Punkten schien unvermeidlich. Botrel zuckt kühl die Achseln und sagt:Es giebt da einen sehr einfachen Ausweg." Wiedas!" fragt la Pierre. Geben Sie mir zehntausend Mann unbesiegbarer Soldaten und ich nehme Alles auf mich."

jKlkine Mittheilungen. j Unter Bezugnahme auf unsere Notiz im 2. Morgenblatt vorn 23. v. M. über das N o e b e 'sche Pedal theilt uns Herr Ang. Glück Hierselbst mit, daß er an feinem Flügel schon feit 1882 eine diesem Pedal ganz ähnliche Ein­richtung besitzt, die damals nach seiner Idee in einer Zürcher Fabrik heroestellt wurde. Aus Kreuznach, 30. Juni, schreibt man uns: Ein hochangesehener Bürger unserer Stadt und ein bedeu­tender Künstler, der Bildhauer A. K e l l e r , ist einem Herz» schla g erlegen und wurde heute unter großen Ehren beerdigt. Die Münchener K ü n st l e r g e n o s s e n s ch a f t hat ihren Plan, im Glaspalast auch Skizzen auszustellen, fallen lassen müssen, da bei dem außerordentlichen Andrang von Kunst­werken alle Behangflächen für Gemälde zu reserviren sind. Der verstorben« Kanzleirath im Arbeitsministerium, Karl Luther, 1843 in Schönebeck a. E. geboren, wo ihn jetzt auch der Tod ereilt hat, war, wie die Doss. Ztg. berichtet, ein Nachkomme I a k o b Luther's, des jüngsten Bruders des Reformators. Es leben auch noch direkte Nachkommen des kurfürstlichen Leibarztes Dr. PaUO Luther, eines Sohnes des Reformators, in der Mark; zu ihnen ge­hört der Diakonus Paul Luther in Kremmew