Abendblatt der Kranksnrter Zeitung
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Inellen Parteien zu einer schweren Waffe gegen die Konser- ivativen verwandt worben sein. Trotz des Einverständ» !n i s s e S der Konservativen mit der inneren Politik deS ^Reichskanzlers sahen sie sich daher genötigt, in einer Er. Hütung auf die Rede des Reichskanzlers zu antworten.
-Die „Deutsche Tageszeitung" findet es unbe- Igreiflich, dos; der Kanzler den Konservativen und National. Liberalen 5en Borwurf gemacht habe, daß ihre patriotifchcn Reden von Wahlrücksichten diktiert gewesen seien.
Wie sei es möglich, die politischen Werte zu übersehen, die in der Erklärung des köLLervativen Führers lagen, um des Vaterlandes willen ein finanzpolitisches Opfer zu bringen, das btt Möglichkeit zeigte, über den schweren unser ganzes Vcuk zersetzenden Parteihader hinweg das gesamte deutsche Bürgertum um ein großes nationales Ziel zu Vereinen? ! Wie denkt sich der Herr Reichskanzler überhaupt die weitere Entwickelung unserer politischen Lage, die nach Gesundung schreit, wenn er die verheißungsvollen Ansätze positiver nationaler Politik, die der gestrige Tag der Marokkodebatte brachte, derartig behandelt? Heißt es nicht — das ist und bleibt das Entscheidende — die nationalen Imponderabilien schwer verkennen, wenn die Bekenntniffe nationaler Entschlossenheit und vater- lündischen Opfermutes derart von derjenigen Stelle zurück- gestoßen werden, die in erster Linie berufen erscheinen sollte, sie als eine Macht zu benutzen, wie sie nur selten aus dem freien Empfinden des Volkes sich darbietet, um innere und äußere Schwierigkeiten zu überwinden? Auf alle diese Fra- gen finden wir keine andere Antwort als die ernstliche Befürchtung, daß der gestrige Tag schwere Folgen für unser nationales Leben haben wird."
Die „Post" ist außer sich und meint:
Hiernach nationale Wahlen mit der Regierung zu machen, ist eine Unmöglichkeit. Es wird keinen nationalen Wähler geben, der leine Stimme einem Manne gibt, der für diese Regierung eintreten will, die sein Heiligstes in dieser Weise ver- dächtigt und herabgesetzt hat. Eine bessere Wahlparole konnten die Sozialdemokraten sich nicht wünschen. Voraussichtlich wird man int nächsten Wahlkampf sich nicht auf Bebels, sondern auf Bethmanns Aussprüche berufen. Mit Betbmanns Ausspruch werden die Sozialdemokraten in den Wahlkampf ziehen und allen nationalen Kandidaten den Sieg erschweren.
Die „Neuesten Nachrichten" schreiben:
Wenn dieser Zusammenstoß, was zu befürchten ijr, zu einer Lösung der guten Beziebungeen zwischen dem Reichskanzler und bett Konservativen führen sollte, so würde das Konsequenzen nach sich ziehen, die wir int Hinblick auf unsere innerpolitischen Verhältnisse aufs lebhafteste bedauern müßten und deren Früchte nur Bestrebungen zugute kommen würden, deren Einfluß auf unsere politischen Zustände zu fördern wahrscheinlich keine Veranlassung vorliegt, um so weniger, je näher die Wahlen sind. Vielleicht ist es auch die Rücksicht auf diese gewesen, die den konservativen Führer bestimmt hat, seine Antwort in einem so auffallend gemäßigten Tone zu halten. Den Reichskanzler aber wird man von dem Vorwurf nicht freisprechen können, daß er in dieser Auseinandersetzung nicht dasjenige staatsmännische Geschick bewiesen hat, das man von dem verantwortlichen Leiter unserer Reichspolitik hatte erwarten dürfen.
Das „Tageblatt" urteilt:
Die Linke wird ja gerne zuerkennen, daß er gestern manches richtige und aufrechte Wort gesprochen, und sie darf es ihm auch danken, daß er den Wahlkampf von dem nationalistischen Gift befreit hat. Aber sich feinem wechselnden Glück und seinem schwankenden Schiff anzuvertrauen, dazu hat sie nicht die geringste Veranlassung.
Die „V o s s i s ch e Ze i t u n g" fragt:
Warum hat Bethmann nicht früher diesen Ton gefunden? Endlich eine Sprache, die den Mann der Tat verrät! Und wer weiß, vielleicht gehört für einen Kanzler und Ministerpräsidenten hier zu Lande mehr Mut dazu, dem ungekrönten König den Handschuh ins Gesicht zu schleudern, als mit dem gekrönten König anzubinden. Wilhelm II. hat auf das preußische .Junkertum, auf die „Edelsten der Nation" bei weitem nicht den Einfluß, wie Ernst 1. auf Klein-Tschunlawe. Als der Reichskanzler gegen den Stachel zu locken, das kaudinische Joch abzuschüttcln, der gottgeivollten Abhängigkeit zu trotzen wagt«, es war eine Tat. Wie sie ihm bekommen wird, muß die Zukunft lehren. Eine Tat ist diese Rede gewesen, zumal nach dem Auftreten des Kronprinzen, aber gleichzeitig eine notgedrungene Abwehr sachlicher und persönlicher Art. Tie Rede des Reichskanzlers ist von unverkennbarer Tragweite für die politischen Verhältnisse nach außen wie im Innern. Man wird jenseits der deutschen Grenzen nun glauben, daß baS Gerede von einer mächtigen deutschen Kriegspartei unter Führung des Kronprinzen ein Hirngespinst ist. Eine kraftvolle Haltung verlangt jedermann. Ein fortwährendes Drein- fchlageu mit der gepanzerten Faust, ohne Rücksicht auf die Möglichkeit eines Krieges, vielleicht zum Zweck der Heraufbe- fckmörung eines Krieges, verlangt nur eine verschwindende Minderheit.
Der „Vorwärts" schreibt, in einem Leitartikel:
Bethniann ist der entfesselten nationalistischen Demagogie entgegengetreten. Er hat diese Demagogie ehrlich und rück- haltSlos entlarvt, ihr die patriotische MaSke abgerissen und ihr ins Gesicht gesagt, daß sie um Parteiinteressen willen das Deutsche Reich geschädigt habe. ES mag dem agrarischen Reickskanzler nicht leiche geworden sein, die Agrarierdemagogie zu entlarven, die regierende Partei zur Todfeindin zu machen. Mag sein, daß es Mut der Verzweiflung war, der ihn zur Rebellion gegen den ungekrönten König getrieben hat, aber über die Motive wollen wir nicht streiten und es wird sich ja zeigen, ob der Kaiser fähig ist, auch in seiner Politik fernerhin die Konsequenzen zu ziehen, die das gefährliche Treiben der Junker erfordert. Heute hat er — von unserem Standpunkt aus vielleicht zum ersten Mal — mutig seine Pflicht erfüllt. Daß er dies tun muhte gegen die konservative Partei, gegen die wahren „Patrioten", das sagt besser als alles andere, wie vclksverwüstend und volksverderbend die Junkerherrschaft auf Deutschland lastet.
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Eine maßlose Sprache gegen den Reichskanzler führt die .Rh ei- nlsch-Westfälische Zeitung", die sich, obgleich manche sie unbegreiflicher Weise noch als nationalliberal angesehen haben, so wesensverwandt mit den Koniervaiiven suhlt.
daß sie die Erwiderung des Kanzlers auf Herrn ö. Hey de» brand eine Beschimpfung des ganzen deutschen Volkes nennt und die Entfernung des Herrn v. Bethmann Hollweg sordert, weil er das Nationalgefühl im Angesicht des Auslandes in den Siaub getreten und daS Ansehen Deutschlands zum Gespött gemacht habe- Aergcr kann man die Schimpferei nicht treiben. Das deutsche Volk wird glücklicherweise bald Gelegenheit haben, zu zeigen, daß ei mit den Heybebrand und Genoßen nichts zu tun haben will. _____________'
Die Marokko-Debatte im Reichstag.
(Telegraphischer Spezialdienst der „Frankfurter Zeitung".) (203. Sitzung.)
W Berlin, 11. November.
Dem Reichstag ist ein Weißbuch über den Notenwechsel zum Marokko - Abkommen zugegangen. Die Debatte über das Marokko-Abkommen wird fortgesetzt. .
Abg. Dr. Franck (Soz.j: Als vor zwei Tagen Herr von Heybebrand seine Wahlrede hielt, dachte ich an ein Erlebnis, Vor den vorletzten englischen Wahlen konnte ich in London eine Rede des Ministers Lloyd George hören, in der er sich gegen Balfour wandte, der kurz vorher gegen Deutschland gehetzt hatte. Er sagte, es sei eine Gewissenlosigkeit, wenn der Führer einer großen Partei in derartiger Weise gegen eine andere Nation Leidenschaften Hervorrufe. Ein solcher Führer disqualifiziert sich, er macht sich unmöglich. Ich habe mit einem gewissen Neid diese Rede gehört und habe mich gefragt, wann wird ein Minister es wagen, gegen die deutschen Demagogen eine solche Rede zu I)alteu. Ich mutz gestehen, daß ich den letzten Tagen in dieser Richtung angenehm enl» täuscht worden bin. Als ehrlicher Gegner muß ich dem Reichskanzler zugestehen, daß die Rede, in der et den deutsch-nationalen Demagogen die Maske weggerisien hat, eine verdien st volle Tat von bleibendem Wert ist. (Lebhafte Zustimmung links. Hört! Höri! rechts.) Wenn versucht worden ist, unter der schwarz-weißen Flagge die konservativen Mandate zu retten, dann werden wir auf die Worte des Reichskanzlers zurückgrcifon. Der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie hat die letzte große Rede über die Teuerung verbreitet; er wird ;etzt wohl auch diese Rede des Reichskanzlers dem Volke zugänglich machen. (Große Heiterkeit.) Der konservative Wahlpatrioiismus ist in dieser Woche totgeblasen worden und nun beginnt der Kampf gegen den Manncsmaunpatriotismus (sehr richtig! links), der bei privaten Interessen glauben machen wollte, nationale Interessen seien engagiert. Tie Konservativen haben mit den deutschen Kanzlern ein sich stets steigerndes Pech. Die deutschen Kanzler werden immer kurragierter gegen die Konservativen. (Sehr richtig! links). ..Der.Graf Caprivi hat .noch geschwiegen, obwohl er vielleicht manches hätte sagen wollen, aber Hohenlohe hat doch schon geschrieben, die Junker pfiffen auf das Reich. Ter vierte Kanzler, Fürst Bülow hat während feiner Amtszeit auch nicht deutlich gesprochen, aber er hat ihnen später zugerufen, die Konservativen hätten ein frivoles Spiel mit den Interessen des Reiches getrieben. (Sehr richtig! links). Der fünfte Kanzler, der noch im Amte ist, und, wie es scheint, bleiben will, der hat den Konservativen zugerufen, daß sie das Reich schädigen. (Sehr richtig! links.) Ich weiß nicht, ob der jetzige Kanzler oder der nächste dazu übergehen wird, die konservative Herrschaft an der Wurzel des Hebels zu packen, am preußischen Wahlrecht (Sehr richtig! links.). Wir machen uns keine Illusionen über die Motive, die den Reichskanzler zu den scharfen Angriffen getrieben haben. Vielleicht ist es möglich, daß der Rcichsregicrung jede starke parlamentarische Kontrolle unbequem ist, mag sie auch von konservativer Seite kommen. Da müflen wir feststelleu, daß wir kein» Lust haben, an die Stelle der Junkerherrschaft den absolutistischen Bürokratismus zu stellen. Diese Tage haben den Zusammenbruch unserer unzulänglichen Verfassungsverhältniffe deutlich gezeigt. (Sehr richtig! links.) Während in Paris über die Dinge Beschluß gefaßt wird, können wir nur reden. Unsere Kollegen in Paris machen Geschichte und wir machen nur Verhandlungsprotokolle. Wir haben auch keine Lust zu einem Absolutismus der beschränkten Fragen durch den Familienrat. (Sehr richtig! links.) Während der Rede des Herrn von Heybebrand, der gern der ungekrönte König genannt wird, hat ein anderer noch ungekrönterer Beifall gespendet, der Kronprinz. Wie sich der schwarzblaue oder schwarze Husarenoberst mit seine Vorgesetzten abfindet, ist seine Sacke. Aber politisch war das ein Anschauungsunterricht, wie er deutlicker nicht gegeben worden ist. (Sehr richtig! links.) Wenn statt des gegenwärtigen Kaisers der Kronprinz auf dem Thron säße, hätten wir vielleicht anstelle eines Vertrages die Kriegserklärung mit Frankreich gewechselt, dann hätten wir vielleicht anstelle eines Friedenswerkes den Krieg. (Sehr richtig! links.) Diese Vorgänge legen uns die Verpflichtung auf, mit allen Kräften dafür zu arbeiten, daß wir zur Zeit, in der der Kronprinz einmal den Thron besteigen muß, die Demokratisierung Deutschlands vollendet haben (Zustimmung links), daß wir zu dieser Zeit nicht mehr in die Hand eines Menschen mit übermenschlicher Macht und Verantwortung gelegt sind. Wie die Mehrheit über diese Dinge denkt, wissen wir nicht, aber wie das Volk draußen denkt das ist klar. Das Volk will einen gründlichen Wandel. Wir lassen uns von China beschämen. Auch im europäischen Reich der Mitte müssen die Zöpfe abgefchnitten werden.
Die Anträge werden ja an eine Kommifsion verwiesen werden. Ich mochte aber bezweifeln, ob diese Kommission nicht den Spuren der, Höhle gleicht, in die nur Spuren hinein, nicht aber heraus führen. (Sehr gut! links.) Das Volk erwartet, daß vor den Wahlen dieser kleine Fortschritt erzielt wird, für den eine Mehrheit vorhanden zu fein scheint. Für diese heutige Materie hat der gesetzgeberische Versuch keine Bedeutung, denn wir teilen die Auffassung, daß schon jetzt der Reichstag seine Genehmigung zum Abkommen erteilen muß. Wir sind der Meinung, daß das Marokko-Abkommen zweifellos ein verschleierter Handelsvertrag ist, bei dem Marokko vertreten ist durch das Protektoratsrecht Frankreichs. Der Reichskanzler hat den Handelsvertrag mit Marokko genehmigt, an dessen
Stelle trat die Algecirasakte, die heute abgelöst werden soll. Diese Materie gehört zu unserer Zuständigkeit. Die Algecirasakte ist dem Reichstag vorgelcgt worden, und er hat dafür abgestimmt trotz des Widerspruchs des Auswärtigen Amtes. Unter diesen Umständen ist die Algecirasakte als Reichsgesetz zu betrachten, das als einseitiger Willensakt des Monarchen nicht angesehen werden kann. Das Ausführungsgesetz enthält Bestimmungen über die Konsulargerichtsbarkeit. Sie gehört nach Artikel 4 der Reichsverfassung zu unserer Zuständigkeit. Diese Bestimmungen sollen durch das Abkommen verändert werden. Das muß also vou uns gemacht werden. Die Frage ist wesentlich nicht juristisch, fonbern politisch. Da find wir alle einig in der Auffaflung, daß kein Gesetz den Reichskanzler hindern wurde, eine genaue.Form zu wählen. Warum hat der Reichskanzler das nicht getan? Er hat dadurch uiemand weher getan als sich selber. Manch unverantwortliche Rede wäre nicht gehalten wordeil, übernähme der Reickstag die Verantwortung für das Zustandekommen oder Nichtzustandekommen des Vertrages. (Sehr richtig!) Bismarck vertrat die Auffaflung, daß internationale Verträge grundsätzlich dem deutschen Reickstag vorzulegen seien. Seit mehreren Jahres ist gegen die Leitung der deutschen auswärtigen Politik em unerschütterliches Mißtrauen vorhanden.^ Eine Mauer vou Mißtrauen ist vorhanden. Wo liegt die «chuld? Bloß an den Kritikern, oder nicht vielmehr an den Ministern? Wenn die Regierung und die alldeutschen Mitglieder streiten, dann kommt die Wahrheit zu ihrem Recht. Allcrkrasseste Un» wiflenheit ist von einem alldeutsche» Politiker einem hochstehende» Man» in. Auswärtige» Amt öffentlich vorgeworfen worden. Es ist vpn diefer Seite gefügt worden, daß ünfere Vertreter im Auslande ihren Aufgaben nicht gewachsen feien. Man hat auf die Vertreter in Berlin, Petersburg, London heute ober früher verwiesen und auch auf Rom. Wenn derartige Behauptungen aufgestellt werden und worden find, fo bedeutet das eine schwere Gefahr für die Sicherheit des Deutfchen Reiches. Hier muß Wandel gefchaffen werden, wenn es möglich ist. Hier handelt c8 sich aber garnickt mehr um Personenfragen. Es genügt nicht zu konstatieren: Es sind unfähige Personen auf wichtige Posten gestellt; hier ist ein System vollkommen zusammengebrocken. Wenn wir keine richtigen SJianner «n die richtigen Posten bringen, dann ist das System, nach dem in Deutschland die Karriere gemacht ist, rückständig. In anderen Ländern gilt die Leistung alles. Im englischen Ministerium sitzen Talente, die den Weg von unten herauf genon- nteit habe». In Deutschland ist diese. Quelle verstopft. Rur eine kleine Schar ist auserwählt. Bei uns kommen Leute in die wichtigsten Stellungen, die ihren BesähigungsnachweiÄ erbracht haben durch Skatspicleu mit hohen Herren und durch Witzeerzählen. (Lebhaftes Sehr richtig! links.) Ter Vertrag ist von keiner Seite geprüft worden. Nur in den „Leipziger Nachrichten" bat man gelesen, daß man.Herrn v. Kiderlen ein Denkmal fetzen möchte. Einen Slgatiriempel möchte man errichten und man möchte am Eingang anstelle der Löwen Panther mit eingezogenem Schwänze ausstcllcn. (Große Heiterkeit.) Anstatt der Reichsflagge soll man die gelbe Weste des Herrn v. Kiderlen hissen. (Große Heiterkeit.) Wir wollen überhaupt kein Denkmal für Minister errichten. (Heiterkeit.)
Die'Grundsätze einer künftigen Friedenspolitik, zu denen der Reichskanzler sich bekannt hat, die begrüßen wir durchaus aus dem Grunde, weil es unsere Grundsätze find. Wir haben nur das Bedauern, daß der Reichskanzler diese Meinung nicht in allen Stadien der Berl;and- lung gehabt hat. Der Reichskanzler hat gewünscht zu Horen, daß es bester gemacht hätte werden sollen. Einmal sind wir der Meinung, daß es dem Herrn Reichskanzler nicht gelungen ist, aufzuklären, warum der „Panther" nach Agadir geschickt worden ist. Diese Fahrt war ein Abklatsch der Tanger-Fahrt, diesmal aber ohne den Kaiser. Wenn Deutschlands Interessen militärischen Schutz berlangteu, dann wären doch Häfen in Betracht gekommen, wo wirklich deutsche Jntereffen sind und wo deutsche Staatsbürger wohnen. Ein Verstcckspielen und eine Geheimtuerei durfte nicht getrieben werden, und alle Auslassungen in alldeutschem Sinne mutzten besprochen werden. Wir haben nichts zu verbergen, aber wenn man Heimlichkeiten hat, dann gedeiht das Werk gewisser Journalisten, und Ludwig Bamberger hat einmal sehr richtig gesagt, die einzige Kriegspartei sind die Journalisten. (Gröhe Heiterkeit,) Es ist so süß, fürs Vaterland mit der Feder in der Hand zu sterben. (Grosse Heiterkeit). Bei Heimlichkeiten gedeiht die Phantasie. Die Rede Lloyd Georg es, über die ich nicht spreche, wäre vielleicht nicht gehalten worden, der peinliche Zwischenfall wäre vielleicht nicht eingetreten, wenn die deutsche Regierung rechtzeitig Auskunft gegeben hätte auf englische Anfragen. Es wird behauptet, und darüber möchten wir eine klare Auskunft, dass die englische Regierung auf mehrere Anfragen hin keine Antwort bekommen hat. Das Verweigern einer Antwort kann beleidigender sein als eine derbe Antwort. Heber diese Dinge wollen wir genaue Auskunft. Für die Arbeiterschaft ist es nicht gleigültig, wen das kapitalistische Frankreich eine Verstärkung seiner Truppen aus Afrika bekommt. Auch mit der Kompensation können wir unS nicht befreunden. Eine gute Kompensation wäre ein gutes Verhältnis zu England und Frankreich gewesen. In den drei grossen festländischen Staaten sind es nur kleine Interessengruppen, die an der Verhetzung ein wirkliches Interesse haben. Die Masse ist sich klar, welche schweren Wunden der Ration selbst ein siegreicher Krieg schlagen muh. Das gilt auch für England. England könnte unsere Flotte vielleicht vernichten, aber das wirtschaftliche Leben Englands wäre in der größten Gefahr. Es könnte Hungersnot drohen, wenn die Schiffsverbindungen abgeschnitten würden. Deswegen glauben wir, datz eine aufrichtige Verständigung mit England das Ziel unserer Politik fein mutz. Ich darf an das Wort Bismarcks erinnern von 1889. Er sagte, er betrachte England als den alten BiLldesgenossen. Herr Wiemer war so töricht, uns vorzuwerfen, oas unsere Friedensdemonstration dem Frieden nicht gedient, sondern ihn gestört hätte. (Sehr richtig! im Hause.) Nein, diese Auffassung widerspricht den Tatsachen. Würde denn einer von Ihnen ernstlich wünschen, datz Millionen von Arbeitern von jener Stimmung erfatzt werden, die Herrn v. Heybebrand beseelt? Wollen Sie, datz unsere Presse nicht verhindern sollte, dah in den Massen eine Kriegsbegeisterung entstände? Wollen Sie verhindern, dah unsere Aktion den auf Erhaltung des Friedens hinwirkendeu Kräften zu Hilfe kommt? Die Sozialdemokraten waren es, die gesagt haben, man muffe dem Chauvinismus entgegentreten. Die organisierte Sozialdemokratie ist zur grotzen Macht des
Samstag, 11. Wovemver 1911
Friedens geworden. iS-hr richtig! links.) Wer weiss, .ob WE nicht alldeutsche Demonstrationen für den Krieg bekommen hätten, wenn nicht die sozialdemokratischen Gcgendemonstrq, tionen das verhindert hätten. Wenn Sie dafür arbeiten wollen daß Deutschland gegen jeden Feind gewappnet und gerüstet ist' dann sorgen Sie dafür, datz den Millionen von Arbeitern das Vaterland lieb gemacht wird. Herr Bassermann hat eine glot. tenvorläge als recht erwünscht in seiner ersten Rede durch, blicken lassen. In der zweiten Rede hat er erklärt falsch verstanden worden zu fein. Ich freue mich datz er sich rechtzeitig aus der Nachbarschaft der ftor> servativen gerettet hat. Auch das Zentrum ist abgerückt Konservatismus. Das halte ich für erfreulich, besonder-, $a gestern zwei englische Minister für Einstellung und Vermin, derung der Flottenrüstungen eingetreten sind. A'.f diese Rede mutz eine freundliche Antwort gegeben werden Ju sie Hand mutz eingeschlagen werden. In einer Form, die aufs neue das Gift der Verhetzung verspritzt, darf nicht erwidert werden. (Sehr richtig! links.) Was unsere Stellung zur K o l o n i a I p o I i t it angeht, so mutz ich sagen: Wenn zu irgend einer Zeit die Partei über ihre kolonialen Gegner triumphiere» konnte, bann war es jetzt. Unfere Ansichten sind jetzt mehr wie bisher bestätigt worden. Gegen Ansiede, lungskolouien hat der Reickskanzler die besten Worte ge. funde» und gegen Pflanzungskolonien haben die Alldeutschen Material geliefert, das bester war, gl« dgs unfrige. Tie Entwicklung der Schutzzollpolitik hat alle Länder, gezwungen, sich Rohstoff- und Absatzgebiete zu suchen. Aber das jetzige Stadium ist nicht bleibend. Vor 40 Jahren hat mart hier im Reichstage gesagt, die Kolonialpolitik sei überwunden. Hof. fentlich sagt man das bald wieder. Alles Gerede, von Kultur» bringen nach Kolonialländern, muh verstummen vor den scheußlichen Taten bet Italiener hi Tripolis. Herr v. Heyde- brand hat versichert, daß unter Umständen seine Freunde auch eine Besihileuer. bewillige» würden. Ick nehme dankend da. von Kenntnis, daß nach diesem Geständnis bisher hie Besitzenden noch nichts gezahlt haben. (Sehr gut!) Herr v. Heybebrand hat einen ' kurzen Blick, wensi er glaubt, die ganze Bewegung der letzten Jahre Hegen seine Partei hänge, von seiner Stellung gegen die Erbschaftssteuer ab. Das ist geradezu kindlich. Das bißchen Erbschaftssteuer tut cs nicht. Tie Adlebnung bat nur in't Miblickt die Stell» beleuchtet. Die Junkerklaffe ist brutal uud rucksicktslos. Ihr rasches Versprechen vor der Wahl, das genügt nicht. Herr d. Heybebrand Tat Schiller zitiert, das ist ein Schmücken mit fremden Federn. Das Zitat ist genommen aus dem Befreiungslied, das Schiller für die Schweizer gedichtet gegen bew Landvogt. (Große Heiterteil.) Wir wollen den Kampf gegen die brutale Junkerschaft aufnehmen, in dem Ruf: Nichts» würdig ist die Nation, die nicht ihr Alles fetzt in ihre Ehre! (Lebhafter Beifall links.)
(Die Sitzung dauert fort.)
Das Verhallen ves Kronprinzen.
Gn London, II. Nov., 10 80 V. IPriv.-Tel.) Mehrer« Blaiiec nehmen die Kundgebungen des Kronprinzen im Reich stage zum Anlaß von Leitartikeln. DersDaily Graphic" sagt:
Der Prinz hat ein Alter erreicht, wo man einige Besonnenheit von ihm erwarten darf. Er mag die Pol'tik Bethmanns aufrichtig miß» billigen, aber es war arwiß nicht böslich oder auch nur grichmackvall, seine Meinung durch Gesten und Lachen zu bekunden. Er mag zornig out England und Frankreich fein aber dos einfachste Gefühl der (tet» antwortlichkeit würde ihn abgrhalteu haben. Brandreden von Jingo. Abg-oidneten offen zu applaudieren. Wie üb raus vetkehtt dissil Bettagen itt, zeigt die Entrüliung in Presse und Reichstag.
Die „Daily Masi" führt ironisch aus, baß die Kundgebungen de? Unwillens gegen England hier keine Beängstigungen Hervorrufen werden. Da4 Bwlt jagt:
Wir werden bäckst wahrscheinlich keine schlechten Trötzne haben, weil ein impulsiv,! Prin; eine auf die Wahlen berechnete Anspielung auf Ziehen des Schwertes beklatscht.
Das Marokko-Abkommen.
91 Berlin, 11. Novbr. (Priv.-Tel.) Die in Unferm gestrigen Abendblatt veröffentlichte, von führenden Männern unseres wirtschaftlichen Lebens ausgehende Kundgebung in Sachen des Marokko-Abkornrnens ist, wie ja schon durch die offizielle Erklärung fcstgcstellt würde, ohne jede Fühlung, nähme mit der Regierung und ohne vorherige Kenntnis der letzteren erfolgt. Wir wissen zufällig, daß diese Kundgebung von hiesigen Kreisen angeregt wurde, die feit Jahrzehnten mit den überseeischen Bestrebungen unserer Landsleute engste Fühlung haben, und daß es sich für diese Kreise nicht darum handelte, etwa nach Art eines Plebiszits einen Aufruf mit längerer Namenslifte zu erlassen, sondern lediglich festzustellen, daß die maßlose, die Würde des deutschen Volkes herabsetzende Kritik des Marokko-Abkommens eine schwere Schädigung unseres nationalen Ansehens im AuSIünde bö- deutet. Die Namen, die unter der Erklärung stehen, sind die von Männern, die sämtlich als angesehene Persönlichkeiten im deutschen auswärtigen Handel und in deutschen auswärtigen Unternehmungen bekannt sind. Was diese wenigen Personen öffentlich bekundeten, ist, wie wir gleichfalls wiffen, alS erlösendes Wort von anderen angesehenen Männern unserer Industrie zustimmend begrüßt worden. Kennzeichnend für die Auffassung ist es, daß die in Hamburg veröffentlichten Er» klärungen von den ersten Männern be$ dortigen HandelS- stcmdes ohne jede Vereinbarung mit Berlin erfolgt sind.
Marokko.
D Madrid, 10. Nov 9.10 V. (Priv -Tel.) Hier herricht gegen» toärtig in der Regierung uahcstehcnden Kreilcn eine pesflniistilch» Stimmung hinsichtlich dcs mutmasslichen Derlaufs der spi-nisch- französischen Verhandlungen, denn Führung teilweise als kurzsichtig und allm auspruchevoll gefabelt tohb. BesonberS erregen die mit bet gemeldeten Eutieubuug des Kriegsschiffes .Caialuna" nach T a n a e x zusammenhLnaenb.n Mutmaßunaen,
zu seinen Lebzeiten in die nur für tote Meister bestimmte Louvre-Galerie eingedrungen ist. Auf diese nie dagewesene Ehrung durfte er freilich nicht besonders stolz sein. Er kam nur auf dem testamentarischen Massenschub der Schenkung Chauchards dazu. Immerhin, Ziem durfte in der Sammlung verbleiben. Roybet, der ebenfalls darin vertreten war, mußte pyr der Tür bleiben. Aber die Verwaltung des Louvre hat sich Wahl mehr vor dem hohen Alter, als vor der Kunst des Künstlers gebeugt, als sie ihn passieren ließ. In Wirklichkeit hat Ziem mehr durch die Quantität als die Qualität gewirkt. Er war dabei so geschickt, sich als Crientmaler zu spezialisieren. Konstantinopel, Nordafrika waren die Vorwurfe seiner ersten Hebungen. Weil er die intensiven Farben liebte, besonders die Lichteffekte des Sonnenscheins, hat man ihn «inen großen Koloriflen genannt. Er fügte eine ausgelöste Farbengebung hinzu und wurde so oft ein Impressionist genannt. Er war keines von Beiden. Die Frische, die seine ersten Werke auszeichnete, ging in einer unerschöpflichen Massenproduktion verloren. Seit Jahrzehnten lieh er den Orient mit Venedig beginnen und aufhören und unaufhörlich malte «r die Lagunenstadt in allen Kanälen, allen Platzen, in allen Jahreszeiten und allen Beleuchtungen, am liebsten aber im Hellen Sonnenschein, der Symphonien in Gelb ins Bild hinein- zaubert. Als Maler von Venedig ist er dann berühmt geworden. Die Republik, bei der er unter Loubets Präsidentschaft eine Art Hofmaler war, hat ihm die Ehrenlegion in den höchsten Graden bescheert und vor einigen Jahren im Museum der Petit Palais einen eigenen Saal eingeräumt.
= [Berliner Theater s Mit dankbarer Bescheidenheit darf man sich eingestehen: der deutsche Vie »sch ist sinnenfreudiger geworden. Selbst in der kurzen Spanne der letzten Jahrzehnte — ich sehe die Reihe der dunklen Kilometersteine, die wir vorwärtsdrängend hinter unS liehen. Und denkt man zurück — sehr viel weiter bis in das doch sehr Helle 18. Jahrhundert zurück: welch seltsam asketischer Zug, der Eheleute zu Entsagenden erhob, der in Liebenden mit stiller Genugtuung Geschwister erkannte. „Schweig, Christ," darf es in „Nathan, dem Weifen" heißen, weil doch der Christ fehr vernehmlich aus der Dichtung spricht, •— gewiß nicht der mittelalterliche Christ, bet für Askese in verzückter Ekstase schwärmte, aber der andere, nicht minder christliche Christ, dem Vernunft die sinnenabge- wandten Lehren eindringlicher machte. Ja, das war damals; wurde erst von Goethe überwunden und klingt doch noch in Goethe nach. Wir aber —? Die Aufführung „N a t h a n s d e s W e i f e n" in den Kamm erspielen war von vornherein mit Bedacht daraus gestellt, den „geschwisterlichen" Ausgang plausibel zu machen. Nun girrte Frl. Eibenfchütz, gleichsam ein weih geschminktes Täubcken, die kluge Lessiug- Sprache der Recha tm Iwckjtcn Ilnschuldsdiskant. Nun war Herr.Kayßler ein so würdiger, gealterter und gesetzter Tempelherr, daß man thm das Entsagen auf den einen Ring gläubig kreditierte, nur datz csaladin dem Besonnenen das .Schweig, Christ," zurufen durfte, schien unverständlich. Pun «hm der Nathan des Herrn Bassermann in seiner Weisheit die aufteimenbe Liebe zwischen beiden von vornherein
ironisch. Mit Bedacht, sage ich; ja mit pedantischem Ernst war die ganze Aufführung darauf gestellt, den „heiteren" Ausgang des Dramas wahrscheinlich zu machen, und ich gesteh es gern: nie hab ich eine „Nathcm"-Aufführung gesehen, bei der mich die Geschwisterlichkeit des liebenden Paares so wenig peinlich berührt hätte. Aber — dieser negative Zweck, welche Mittel hatte er zu heiligen! Ten luftigen Ton gleich eingangs anzuschlagen, muhte wohl Herr Wegener den Derwisch, unseren lieben Derwisch, zu einer Art von Clown erniedrigen; mutzte wohl Frl. Kupfer die Daja ins Kupplerische hinüberspielen. Selbst Herr Bassermann — man mag sich schließlich damit abgefunben- haben, datz er keine Verse, auch nicht den realistisch behandelten Vers Lessings zu sprechen vermag — suchte int Nathan nur den für fein Alter erstaunlich temperamentvoll gebliebenen, ironisch überlegenen Herrn. Den fand er. Dem verhalf er dank jugendlichen Temperaments sogar zu starken Publikumswirkungen in der Ring-Erzählung Aber weiter sand er nichts. Der Zweck, von dem ich sprach, hatte böse Mittel — auch die schauspielerisch unzulänglichen Mittel des Herrn Ebert (Saladin), des Frl. B aj o r (Sittah), — zu heiligen, und was war damit erreicht? Das, woran wir, gott- seidank, doch nicht mehr glauben, etwas weniger unglaubwürdig erscheinen zu lasse« Und darum, damit, dafür nahm man uns unseren Glauben! Denn wir glauben an die Menschheitswürde des „Nathan", wir glauben an die beseligende Kraft dieser Duldung, die nicht nur Duldung, sondern werktätige Liebe ist, wir glauben an die befreiende Macht einer auf Innerlichkeit gestellten Lebens-ührung. Für all das aber war nur ein 8euge_ in Herrn Pagay und feinem Klosterbruder geblieben. «onst 'Leere. Tas seins und pathetisch grohe Men- schentum Lessing? an Väterchen und Brüderchen, an Onkel Saladin und Tante Sittah verhandelt. Wern das Spatz macht — gut; mir macht es keine Freude. —E. H.
kf [Ttc chinefischc „Marseillaise", j Tie Chinesen haben nun auher ihrer (kürzlich mitgeteiltcn) Nationalhymne auch ihre Marseillais c; wahrend der letzten Gefechte um Wutfchang soll sie geboten fein. Sie ist dem „Figaro" aus Schanghai mitgeteilt worden und lautet folgendermaßen:
O> Freiheit, du bist der größten Himmelsgaben eine! Zehntausende von Wundem kannst du schaffen. Wenn du dich mit dem Frieden eerbinbeft.
Emst bist du wie ein Geist, Groß wie ein Riese, der in die Wolken reicht. In die Wolken fuhr er auf seinem Wagen, Sein Führer war der Wind.
O komme du, um die Erde zu regieren!
Du leuchtendes Europa,
Du bist wahrhaftig des Himmels LieblingStochter; Brot, Wein und alle Gaben sind dein im Uebcrflufe! Das große Asien ist nichts als eine unermeßliche Wüste! O möchten doch alle im 20. Jahrhundert daran arbeiten. Diesem Lande eine nent Zeit heraufzufuhren.
Möchten doch alle tapferen Menschen einmütig daran gehen.
Himmel und Erde zu reformieren!
Erregen möge sich die Seele des Volkes bis an die Grenze des Berges.
Washington und Napoleon, ihr Söhne der Freiheit, Kommet zu uns, um eine Inkarnation bei uns zu finden! Hin-Dun, du unser Ahnherr, führe uns!
Du Genius der Freiheit, eile herbei und schütze unS!
Der Dichter dieser „Marseillaise" scheint eine allzu blühende^, allzu chinesische Phantasie zu besitzen, da er einen Ueberfluß an Brat, Wein und allen Gaben int leuchtenden Europa konstatiert. Jedenfalls hat er die europäischen Zeitungsberichte dieses Jahres nicht gelesen.
— [Ter Mantel des heiligen Martins Man schreibt uns: Herr Martin aus Stein am Anger im heutigen Ungarn, weiland Kaiserlicher Offizier unter Julian, später Bischof von Tours, Heiliger und Patron der Trinker und Prasser (heute, am 11. November verspeisen wir zu seinem (Siebenten die Martinsgans!), begegnet auf morgendlichem Ritt einem dürftig bekleideten Bettler. Er halt fein Rötzlein an, nimmt von der Schulter den Mantel, zerhaut ihn mit dem Schwert und reicht die eine Hälfte dem Armen dar. — Sa die Legende. Man kennt sie aus mancher bildlichen Darstellung und hat sich vielleicht auch schon im Stillen über die Uu t a u g l i ch k e i t dieses Almosens gewundert.. Ein h a l- b er Mantel — wie soll der einen Frierenden wärmen! — Ta hat just vor wenigen Tagen Herr Camille Jullian gelegentlich eine» archäologischen Vortrag? im Institut de France der Erzählung von der seltsamen Liebesgabe St. Martin» eine Interpretation gegeben, welche bie Einsicht und Menschen, freundlichkcit des Heiligen in eine bessere Beleuchtung rückt. Nach dieser neuen Auslegung wäre der Mantel des frommen Kriegsmanns, die Pänula, mit Goldstickerei geschmückt gewesen, und einen Teil derselben, eine Borde etwa oder eine Quaste, habe der Reiter mit seinem Schwert abgetrennt und d?m Bettler geschenkt, damit er aus dessen Erlös sich einen schlichten, aber doch ganzen Mantel kaufen könne. — Diese Hypothese hat manches für sich. Jedenfalls war in späirömi- scher, bereits von der Ueppigkeit des Orients beeinflußter Zeit ein CffigicrSmantel von einigem Wert, mutz doch schon in den Tagen der Republik das gewöhnliche Oberkleid deS Civis Romanus seinen Preis gehabt haben, denn anders wäre die damals übliche Redensart, die man dem aufdringlichen, zum Bleiben nötigenden Gastfreund gegenüber gebrauchte, nicht recht verständlich: „Mein Herr, verderben eie mir die Pänula nicht," wie man heute in ähnlichem Falle etwa sagt: „Reihen Sie mir doch die Rockschösse nicht ab." —A.L.
s [Tet jüdische Friedhof zu Wormä.j Man schreibt uns aus Worms: Heute übergibt die politische Gemeinde der Stadt der israelitischen Gemeinde denjenigen Teil des allgemeinen Friedhofes auf der Hochheimer Höhe, den sie zur ausschliesslichen Benützung angelegt hat. Ter alte Jubcn- friebhof, der, wie einst der Prager, weltbekannt ist, schliesst damit, nachdem er 1000 Jahre seiner Bestimmung aedieni hat.
, für immer seine Pforten. Doch wird er nicht wie der Prager dem Verkehr der Neuzeit zum Opfer fallen, fonbern als unantastbares Eigentum ber Kultusgemeinde und zudem unter Denkmalschutz späteren Geschlechtern in seiner jetzigen Beschaffenheit erhalten bleiben. Von Osten her grützt ihn sein Altersgenosse, ber unter Bischof Burkharb erbaute Dom mit ragen- ben Türmen, dem benachbart ber jetzt versckwunbenc Bischofs- haf lag, in dessen Schutz diejenigen, deren Staub er birgt, im finsteren Mittelalter vor ber entfesselten, vom Glaubensssüa- tiSmus angefachten mitten Mordlust ber Menge so oft, meist erfolglos, sich flüchteten. Es ist ein Ort, ber mit seinen unzähligen, in Form unb Material sich gleichenden und mit krausen alkhebräischen Inschriften bedeckten grauen, verwitterten Steinen und durch die Erinnerungen, die er wachruft, er» greifend auf den Besucher wirkt. Wenn urkundlich das Jahr 1 034 als Jahr ber Grundsteinlegung der berühmten im romanischen Stil erbauten Synagoge genannt wird, so darf angenommen werden, bah bie Gemeinbe, für bie sie bestimmt mar, schon damals der Gröhe dieses Gotteshauses entsprechend zahlreich tvar und datz sie sornie die Mainzer schon um die Mitte des 9. Jahrhunderts sich ansässig gemackt hatte. Ungefähr dasselbe Alter dürste auch der Friedhof haben, dessen ältester bisher gefundener Grabstein die Jahreszahl 1077 trägt. An ber östlichen Mauer steht ein Grabstein ber dem Andenken der im ersten Kreuzzug ber Wut des Volkes an der Spitze ber Gemeinbe zum Opfer gefallenen Avöls Vorsteher gewibmet ist. Licht beim Eingang links vom Wege fallen zrnei Grabsteine in die Augen, deren Oberkante eine Menge kleiner bom Boden aufgeregter Kiesel trägt; es sind die des berühmtesten Gesetzeskundigen seiner Zeit, des Rabbi M c i r vom Rothenburg, der in ber Gefangenschaft des Kaisers Rudolf zu Ensisheim starb, und desjenigen, der seine Asche gegen hohes Lösegeld befreite und in Worms bestattete, eines Frankfurter Juden, Sühkind Wimpfen. Gar manche Größe im Geistesleben des Judentums hat hier feine letzt« Ruhestätte gefunden.
— [390,000 Mk. Nnfallentschädiguiig.j Wir lesen in ber Zeitung bc» Vereins Deutscher EisenbahnverwaltungLN: Bei einem Unfall auf ber Süb Pacific-Eisenbahü in S ä"n Francisco hatte ein Reisenber beibe Stint unb ein Bein verloren. Tie Eisenbahngefellschaft bot ihm zunächst 500 Dollar (!.) Entschädigung an, ivomit er aber, und mahl Mit Recht, nicht zufrieden mar. Tas Gericht, dessen Entscheidung er anrief, sprach ihm in erster Instanz 100 000 Dollar zu. Da ber Kläger jedoch fürchtete, daß die höhere Instanz dieses Urteil nicht aufrecht erhalten mürbe, ging er auf einen Vergleich ein, auf Grunb besten ihm 70 000 Toll. Entschäbiguna gezahlt Kerben sollten. Trotz dieses Vergleiches kam es nochmals zu einer Klage, unb das Gericht setzte nunmehr die Entschädigung auf 70 000 Toll. sest.' Ta für diese Summe Zinsen vom 31. Dezember 1906 zu zahlen sind und die Eisenbahnver- maltung außerdem die Kosten zu tragen hat, so hatte sie dem Verunglückten im ganzen bie Summe von 92 747.65 Doll, oder nahezu 390 000 Mk. zu zahlen, maS sie auch am 24_.3uli d. 36. mit einem Sckeck aetan baL Die Summe tnüA für bie