Sonntag» 1. Sinn 1931 15 Pfg.
Erstes MorgeMatt 75. Jahrgang Ur. 160 (IN-) Dreimalige Ausgabe
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Peichskansier Kriining vor dem deutschen Großhandel.
Ktroer«. — Soiialvrrlichrrnng. — liriiarutionrn.
Präsidium und Vorstand des ReichsverbandeS des Deutschen Groß, und Ueb erseehandels sanden sich in der zweiten Hälfte des Februars zu Beratungen zusammen, an denen sich auch der Reichskanzler Dr. Brüning beteiligte.
In einem einleitenden Vortrag entwarf Geheimrat Ravens ein düsteres Bild von der Lage des deutschen Großhandels, dem es nach seiner Meinung nicht ein Iota besser gehe als der Landwirt- schast. Die übermäßige Besteuerung sei geradezu als eine „fortschreitende Konfiskation des Betriebskapitals" anzusprechen; von einer Erleichterung der Wirtschaft von direkten Steuern sei kaum etwas zu spüren. Der Großhandel stehe am Ende seiner Kraft. Er fordere eine alsbaldige Regelung der Reparationen, die Beseitigung aller Zwangswirtschaft, llmlagerung der Steuern von den direkten auf allgemeine Verbrauchssteuern und endlich den völligen Abschluß der offiziellen Preissenkungsaktion, da das Gerede von ihr zu vollkommener Geschäftsstille sühre. Nach weiteren Darlegungen von Rudolf H. Petersen, Hamburg nahm
Reichskanzler Dr. Drnning
das Wort und führte u. a. folgendes aus: Die ungeheure Verschuldung Deutschlands setzte schon 1924 ein, wo man große Auslandskapitalien zu investieren begann, und zwar zu einem Zinsfuß, der niemals eine Rendite bringen konnte. Das deutsche Volk hat damals das hereinströmende Auslandskapital als Vermehrung seines Barvermögens angesehen und danach seinen Lebensstandard eingerichtet, der viel höher liegt als je in der Vorkriegszeit. Es kommt hinzu, daß auf Grund dieser Kapitalien die
Rationalisierung in viel zu schnellem Tempo
vorgenommen wurde anstatt etappenweise an diese Dinge heranzugehen. In der Frage der Reformbedürftigkeit der Arbeitslosenversicherung darf man gerechter Weise nicht übersehen, daß die Wirtschaft selbst oft an der Uebersteigerung der Ansprüche beteiligt war. So hat ja die Landwirtschaft stärkstcns die Forderung der Hereinnahme der Saisonarbeiter in die A. V. — und zwar gegen die Absichten der damaligen Regierung — erhoben. Eine Umlagerung von direkten auf indirekte S t e u- ern ist bereits vorgenommcn. Wir haben die Biersteuer erhöht, die Tabaksteuer wiederum erhöht, die Mincralwaffersteuer eingc- führt, und das Ergebnis war, daß selbst der nach sehr vorsichtiger Schätzung erwartete Steuerbetrag nicht erreicht wurde. Die Erhöhung der Branntweinsteuer ist sogar ins Gegenteil umgeschlagen, so daß wir
im Augenblick am Ende der Belastung dieser Konsumartikel
angelangt sind. Am nachdrücklichsten muß man deshalb immer wieder von der Notwendigkeit und dem Zwang zur A u s - gabensenkung sprechen. Heute haben wir die Gemeinden schon' so weit getrieben, daß sie zum Teil nicht mehr zahlen können. So tritt am ersten der Zwang ein, eine Konsolidierung in der Ausgabenwirtschaft vorzunehmen. Die allgemeinen Ausgaben sozialer Art stellen aber tatsächlich mit den düstersten Punkt der öffentlichen Finanzwirtschaft dar. Auch hier können wir nicht daran denken, einfach zwangsweise die Gemeinden finanziell zugrunde gehen zu lassen. Alles, was die Regierung hier vermochte, war, alle Kräfte anzuspannen, sm den vollkommenen Ruin zu verhindern. Der Kulminationspunkt unserer Steuerbelastung war überschritten. Wir sind
daher zum ersten Male — im Gegensatz zur Politik der vergangenen Jahre — an die
energische Drosselung der Ausgabe« herangegangen. Die Reparationslasten sind nicht nur für den Staatshaushalt, sondern auch für die Z i n s b i l d u n g von größter Bedeutung. Die Frage eines Zahlungsaufschubs ist jedoch nur mit großer Vorsicht aufzufassen. Sie ist keine Lösung des Reparationsproblems, sie kann vielmehr die Lösung des Problems sogar verbarrikadieren. Ich bin überzeugt,
dass wir erst seit einem Jahre dir Reparationszahlungen aus eigenen Mitteln aufbringen.
Und jetzt zeigt es sich, daß nur durch einen Ausfuhrüberschuß diese Zahlungen geleistet werden können. Je mehr das erkannt wird, umso sicherer ist damit zu rechnen, daß wir an einen Wendepunkt in der Auffassung über die Wirkung dieser Zahlungen der Gläubigerstaaten kommen. Ich topbe trotz aller Widerstände in der Reparationsfrage
nicht wieder den Fehler des Jahres 1928 begehen, eine populäre Politik zu machen und dafür Dinge in Kauf zu nehmen, die viel schlimmer find.
als das, was wir vorher batten. Noch einmal denselben Fehler zu machen, könnte uns in verschleierter Form vieles an politischer Freiheit kosten und das kann kein verantwortungsbewußter Staatsmann auf sich nehmen. Die kurzfristigen Kredite sollten so schnell wie möglich konsolidiert und, soweit als möglich, in langfristige umgewandelt werden. Denn die Panikstimmungen während der Sachverständigen-Tagung in Paris und nach den letzten Wtchlen haben dazu geführt, daß der deutschen Wirtschaft innerhalb weniger Tage etwa 1% Milliarden an Mitteln entzogen wurden. Gerade diese Dinge sind es, die eine Befreiung Deutschlands auch in bezug auf seine äußeren Verpflichtungen unmöglich machen.
Bezüglich einer Reform der Sozialversicherung finden sich di« Hauptfehler in der Handhabung und Ausführung be st ehender Bestimmungen. Wir müssen daher eine kritische Nachprüfung überall vornehmen, um von der bisherigen bequemen Bewilligungsfreudigkeit herunterzukommen. Dabei tritt ein sehr ernstes Problem auf, das eng mit der Rationalisierung zusammenhängt. In der Knappschaftsversicherung hatte man sich z. B. genau Beiträge und Zahlungen errechnet. Inzwischen sind 132 000 Bergarbeiter durch Rationalisierung abgebaut worden, die voraussichtlich nicht mehr in den Arbeitsprozeß eingeschaltet werden können. Es fallen also die Beiträge zu einem Drittel fort, während die zugesprochenen Renten nicht ab- nehmen. Ties Problem zieht sich wie ein roter Faden durch alle Sozialversicherungen. Um es zu bewältigen, wird es darauf ankommen wieder soviel Arbeiter als irgend möglich in Arbeit hiu- einzubringen und das wird nur zu leisten sein, durch besondere
Abmachungen in der Lohnfrage.
Derartige Herabsetzungen von Löhnen und Gehältern, wie sie schon stattgefunden haben, müssen mindestens vorübergehend auf allen Gebieten eine Verminderung bet Kaufkraft schaffen, so daß bei den Auswirkungen der Preissenkungsaktion der Regie-
(Fortsetzung siehe Seite 2.)
Voller Erfolg der Flottenbesprechung in Pom.
lDrahtmeldung unseres Korrespondenten.)
o Rom, 28. Febr. Die römische Flottenbesprechung hat nach Ueberwindung der letzten Schwierigkeiten mit einem vollen Erfolg geendet. Es ist eine grundsätzliche Vereinbarung (Agreement) zwischen den beiden englischen Ministern und der i t a l i e n i s ch e n Regierung über die auf der letzten Londoner Flottenkonferenz ungelöst gebliebenen Fragen erreicht. Dieses Abkommen wird zunächst der französischen Regierung zur Genehmigung unterbreitet, weshalb Henderson und Alexander noch heute abend nach Paris zurückkehren. Später werden die amerikanische und japanische Regierung befragt werden. Es bestätigt sich, daß es sich um ein Bauprogramm bis zum Jahre 1936 handelt, das im
wesentlichen unserer gestern gegebenen Skizze entspricht. Man zweifelt nicht, daß die römische Lösung durch Frankreich und später durch die anderen Regierungen angenommen wird.
Italien sieht dies Ergebnis als bemerkenswerten Erfolg seiner Außenpolitik an und hebt hervor, daß die in diesen Tagen stattgefundenen politischen Unterredungen zwischen Mussolini und Gandi einerseits und Alexander und Henderson andererseits, die neben den technischen Beratungen einhergingen, zu einer hoffnungsvollen politischen Annäherung zwischen Großbritannien und Italien geführt haben.
NalionalfozlaUsmus.
Don Friedrich Fra«; von Unruh.
VII.*)
V-rst-ß und Vernebelung.
Wie kam doch das alles — das Anwachsen dieser aus dem Boden gestampften Partei?
Sechs Männer bildeten 1919 in München die Mutsche Arbeiterpartei'. Da kam H i t l e r hinzu, und er wurde die Seele der nun wachsenden NSDAP. Was trieb ihn, was erstrebte, verkündete er?
Der Soldat, der vier Jahre im Kampfe gestanden hatte, fand eine durcheinandergerüttelte Heimat. Die deutsche, nationale Idee, für die er gekämpft und geblutet hatte, zerrann. Richt mir, daß sich Deutschland ergeben hatte, — es wandte sich' neuen Zielen zu, glaubte an Völkerbund, an Versöhnung, an Internationalismus. Wie war das möglich, wo lag die Schuld? Im Marxismus, schloß Hitler. Der Jude Marx hatte die Not der Bedrückten benutzt, um sie mit internationalen Parolen zu ködern. Die Juden gebrauchten das Proletariat, um die Volksgemeinschaft zu sprengen, um den Sieg ihres internationalen Kapitals zu erringen. Und dem brach der Novemberstaat Bahn! So sah Hitler es an. Die Front war ihm klar: Gegen Versailles, gegen die Republik! Gegen die Juden und den Marxismus!
' Bald war jede Versammlung, in der er sprach, überfüllt. Tausende lauschten ihm. Es gab natürlich, zumal in den ersten Jahren, viel Widerspruch; aber Hitler hielt sich die Gegner vom Leibe. Immer sichtlicher war die Stimmung für ihn. Und Bayern war ideales Terrain. Hier war die Räterepublik ausgerufen, hier waren die Geiseln ermordet worden. Der Schrecken aus dieser Zeit lebte fort; er lag den meisten noch in den Gliedern. Dem Ruck nach links folgte einer nach rechts. Bayern wurde die „Ordnungszelle', die Hochburg der Reaktion. Hier machten Freiwilligenverbänd«, Einwohnerwehren, „Reichsflagge", „Oberland' ungestört ihre Hebungen. Hier gab es Pässe für Meuchelmörder, hier fanden Leute, die das Reich steckbrieflich suchte, Asyl. Der gegebene Boden für Putsche. Hier hatte Hitler für seine Demagogie freie Bahn. Selbst die Landesregierung trieb eine reichsfeindliche Politik. Der Generalstaatskommissar von Kahr sammelte seine Helfer. Da war Lossow, an der Spitze der „bayrisch' vereidigten Reichswehr, Ludendorff, der berüchtigte Ehrhardt. Zu Urnen stieß Hitler; als „Trommler', als glänzender Redner willkommen; denn er hatte die Massen, seine Partei und Tausende uniformierter Freiwilliger; Ludendorff war er durch seinen Judenhaß noch besonders sympathisch. Kahr, Lossow gedachten, sich dieses Mannes zu bedienen. Er meinte es anders: er brauchte sie, um zur Macht zu kommen. Er war es denn auch, her die Sache zum Klappen brachte. Es war November 1923. Der Moment schien ihm günstig. Das Reich war durch die Nuhrinvasion erschöpft, die Währung zusammengebrochen. Vom 1. Oktober zum 1. November glitt der Markkurs von 210 Millionen auf 130 Milliarden, am 8. 11. auf über eine halbe Billion. Da schlug Hitler los. Im Bürgerbräukcller wurde der Putsch inszeniert. Die Reichsregierung, erflärte Hitler, wird abgesetzt, eine neue gebildet; „ich übernehme sie". Also: gegen Berlin! Endlich gegen die Preußen! Die Menge schrie Beifall. Sie war zwar in diesen Jahren preußischer als preußisch geworden, nämlich stockreaktionär; sie hatte kein Recht mehr zu schimpfen, aber die Abneigung blieb. Nun gab Hitler das Stichwort: gegen Ebert, die Judenrepublik, das mar- xisttsche „Sündenbabel'. Die Animosität," die so lange verdrängt war, schlug hoch. Gegen Berlin! das klang manchem noch lockender als: gegen Frankreich. Jubel herrschte, und die Freiwilligen brannten darauf, zu marschieren. Es kam anders. Noch in der Nacht ließen Lossow und Kahr Hitler, der sie überrumpelt hatte, im Stich; am nächsten Tag fielen Schüsse: Polizei ging gegen die Hochverräter, Hitler und die ©einigen, vor. Es gab sechzehn Tote. — Das Gericht grub dem Putsch sein Grab. Hitler hielt eine schwungvolle Rede und kam auf Festung.
Eine Zeitlang war Ruhe; die Währung war stabilisiert. Deutschland erholte sich. Im Dezember 1924 hatten die Nationalsozialisten 14 Reichstagsmandate, vier Jahre später sogar nur noch 13. Hitler, der sehr bald begnadigt war, reorganisierte^ seine durch Zwietracht zersetzte Partei. Die „Deutsch- völkische Freiheitspartei', die von Graefe und Wulle, ultra- reaktionär und offen «sozialistisch, spaltete ab. Auch Luden-
*) Vergleiche Nr. 141, 143, 148, 151, 154 und 157.
dorff ging jetzt eigene Wege. Durch die Scheidungen war die Hitlerpartei zwar geschwächt, aber fester in Händen des Chefs. Die Organisation wuchs sich aus: Versammlungen täglich und überall. Die Notlage Deutschlands, die wieder stieg, kam Hitler zustatten. Mit dem Anziehen der Erwerbslosenziffern, den Kreditschwierigkeiten, der Wirtfchafts- depression, nicht zuletzt: dem Tod Stresemanns, sprangen viele, die Vertrauen gefaßt hatten, ab; ins andere Lager. Und viel«, die dort schon gestanden hatten, nur nicht so weit nach rechts, folgten nach; auch sie wählten Hitler, denn er versprach die energischste Opposition. 1930 verloren die Deutschnationalen allein 38 Mandate!
Die ,Mwinc" rollt. Das aber, was sie ins Rollen bracht« — war eine Fälschung. Die ganze Bewegung entspringt einer Lüge; der Fabel vom „Novemberverbrechen": daß die „jüdische' Revolutton, nicht etwa der verlorene Krieg, den Zusammenbruch Deutschlands verursacht habe. Hier steckt die Kernlüge, der Ansatzpunkt der V e r n e b e l u n g. Denn war nicht die Niederlage, nur die Umwälzung schuld, muß der Staat, den sie schuf, verschwinden. So setzt hier das Sperrfeuer gegen die Wahrheit, gegen die Tatsachen ein. „Es ge= gehört," fagt Hitler, „schon eine wahrhaft jüdische Frechheit dazu, der militärischen Niederlage die Schuld am Zusammenbruch beizumessen ... Die Niederlagen auf dem Schlachffelde im August 1918 wären spielend leicht zu ertragen gewesen... Nicht sie haben uns gestürzt, sondern" — die Juden. Und kürzlich, am Neujahrstag: „Erinnert euch des Krieges, da unser Volk ruhmüberladen 4l/2 Jabre lang der Welt stand- gehalten hat, um auf der letzten Stufe zum Sieg zu verzagen . . .' Auf der letzten Stufe zum Sieg! Und er sagt das nicht einmal allein, Ungezählte sind gleicher Ansicht.'Millionen meinen, es stimmte. Wie ist das möglich, wo doch die Tatsachen nicht überliefert, sondern m i t e r I e 6 t sind?
Ich war in den kritischen Wochen damals im Großen Hauptguartier. Die Wirklichkeit hieß: militärischer Niederbruch. Kein Mensch dachte anders. Niemand sprach von Dolchstößen oder Revolution. Ich sah Offiziere in Tränen ausbrechen, nicht im November, nein Ende September, als sich unsere Niederlage entschied. Es gab nur noch eins: Waffenstillstand. Kein Aufschub! Wenn die Zivilisten sich sperren, setzt ihnen „die eiserne Faust ins Genick"! So war die Lage. Und schien es auch später noch einmal etwas weniger verzweifelt zu stehen, was besagte das, wo der Gegner sich täglich, ja stündlich verstärkte? Es war Schluß; es war aussichtslos. Nicht Erzberger, sondern Hindenburg dekretierte: bedingungslos unterzeichnen!
Daß ein Volk, auf das Schwerste getäuscht, bis ins Mark
Aus dem Inhalt der abgelaufenen Woche;
Nationalsozialismus. Artitkelreihe von
Friedr. Franz von Unruh. Nr. 141,143, 148,151,154 u, 157
Im Kampf um § 218. Zur Verhaftung Friedrich Wolfs. Nr. 143
Der Bankier Serbiens. Aus den „Erinnerungen" von Carl Fürstenberg. Nr. 141, 145
Zehn Jahre Deutsche Hochschule für Leibesübungen. Nr. 145
Der Rechnungshof beanstandet. Interessantes aus einer Denkschrift, „ 146
„Osthilfe — vom Geiste her.“ Noch eine Stimme aus Osteibien. „ 146
Die Propaganda der Gottlosen. „ 147
Gefährliche Ermächtigung. (Handlungsfreiheit für das gesamte Zollgebiet?) „ 150
Sind sie guten Willens? Ein politischer Situationsbericht aus Paris. „ 151
Das Ergebnis der ersten europäischen Getreidekonferenz, „ 153
Bülow a. D. Zum 3. Band der „Denkwürdigkeiten". „ 155
Bewegung in der Außenpolitik. (Abrüstung und
Reparationen.) „ 156
Reif für eine Revolution? Sonderbericht aus
Spanien. „ 157
„Legaler Hochverrat." Ende der nationalsozialistischen Täuschungsmanöver? „ 158
Der graue Irühting.
Von Martha Zipser.
Die Dögel fingen schmerzhaft im Frühling für einen, her traurig ist. Und das Licht, der blaue Himmel, für wen find fie gemacht? Sind fie für di« lustigen Leute, die es immer noch gibt? (Erbarmungsloser Frühling, wie schön bist du!)
Während Jekatharina Michailowna aus ihrer Frühstückstasse trinken wollte, sah sie, daß die erste Mücke des Jahres an dem inneren Rande saß, und sie ließ ab davon und ward scheu, das zarte Geschöpf, das wie ein lebendiger Staub war, zu zerstören.
Unten im Hofe schütt ein Kind und ging von Stein zu Stein und goß aus einem Glase Wasser aus.
Jekathattna, die das Kind kannte, rief aus dem Fenster hinunter: „Russalka, was tust du da?"
Und das Kind antwortete: „Ich begieße die Steine, damit wir schönes Gras kriegen."
Da lachte Jekatharina über da? Kind, und sie wußte wohl, daß es nicht schön war, über ein Kind zu lachen, aber es war ihre Freude, die also antwotten mußte. Und sie dachte auch, cs sei nicht so unmöglich, daß hier zwischen den groben Pflastersteinen einmal grünes Gras wachsen werde. Als alle Pflastersteine besprengt waren und das Kind schon fortgegangen war, blickte Jekatharina noch aus dem Fenster hinab und stützte ihren Kopf in die heißen Hälche. Der Briefträger ging von der erften Stiege zur zweiten, und sie erblickte feine abgegriffene Brieftasche, seine stolze Mütze, die wie die der Knaben war, bloß zum Spiel.
Im Hause klopfte irgendwer Teppiche, mit dem Trommelfeuer angeborener Brutalität, und ein Hund bellte hoch und winselnd, als sei er es, der geschlagen würde. Aber der mißhandelte Hund schwieg nicht in den Pausen, in denen es keine Schläge gab, und die Stille tat geller weh als das überstürzte Geräusch.
Ueber dem hohen Haus war der blasse blaue Himmel, in dem oft ein Pfeifen weitflog, denn die Bahn fuhr durch die Vorstadt, in baumalten Alleen, den Häusermauern nahe . . . Und die Sonne brannte bort nicht unsichtbar als Tageslicht wie über dem Hof, sondern als ein Gestirn.
Jekatharina Michailowna schloß heute nicht das Fenster; sie besah sich in den gläsernen Scheiben, sie zog einen kleinen Kamm hervor und kämmte ihr Haar. Zuweilen hatte sie eine neue Frisur versucht, aber es waren Jahre seicher vergangen, und Jekatharina hatte so lange nicht über sich nachgedacht, weil keiner da war, dem sie gefallen mochte.
Wie seltsam, dachte Jekatharina Michailowna, ich liebe ihn nicht und betrachte mich doch, als sei er meinetwegen da , . .
Und indem sie sich allein in die Augen sah, dachte sie an den Mitwohnenden, der seit zwei Jahren ihr Zimmer teilte, der des morgens sottging, des abends kam, für den sie das Nachtessen bereitete, der sie als Herrin ansprach. Als die wirkliche Not, die Angst vor dem Hunger, es verlangt hatte, das eigene Zimmer um Geld auszumieten, sich selber in die Küche zu drängen, war Jekatharina daran gewesen zu glauben, ihr enttechtetes Leben sei ebenso käuflich dem fremden Nutzen prcisgegeben wie ihr Bett. Sie hatte dem ersten, der ihr Zimmer haben wollte, den Schlüssel ihrer Wohnung ausgeliefert, und da er ein Mann war, hatte sie gewartet, daß er von seinem unmäßigen Recht zu ihrer Schmach Gebrauch mache.
Aber ihr Blut beruhigte sich, und sie vermochte wieder ihrer Geborgenheit gewiß zu sein, das verlorene Leben ward ihr wieder geschenkt, sie gehörte sich selbst wie ehemals, obwohl ein Mann bei ihr wohnte.
Und nur weil er gebeten hatte, mit ihr des Abends bei Tische zu sitzen, sah sie sein Gesicht in der Nähe, hörte seine Stimme und wußte allmählich von seinem Leben, er war fremd und allein in der Stadt. Er sagte Jekatharina Michailowna zu ihr, und sie sagte Herr Pjott zu ihm, denn er war kein Landsmami und besaß einen schwer zu behaltenden Familiennamen. Er war groß gewachsen und hatte einen geraden Rücken, sein Gesicht gefiel Jekatharina, und beinahe hätte sich ihr Herz in Herrn Pjott verliebt, wenn seine Schritte nicht so hart über die Diele gegangen wären; wenn er des Morgens nicht auf seine Art sich räuspette; wenn er nicht so gierig in die'gebackenen Semmeln gebissen hätte, daß sie ihre Augen von ihm abwenden mußte, jedesmcll in schmerzlicher Erstauntheit.
Was Herr Pjotr von ihr dachte, war Jekatharina gleichgültig. Er hatte eine kleinlich verschämte Att, seine Miete zu bezahlen, daran erkannte sie, daß er sich in fteundschaftlichcm Verhältnis zu ihr sah. Das belustigte sie, aber cs war traurig, lustig, etwa wie ein verregneter Hut. O ja, Jekatharina Michailowna sah Herrn Pjott an und sah ihn nicht. Wohl sah sie aber ihre Liebe, und sie liebte Herrn Pjott nicht. Die einzige Lust, die Herrn Pjotrs Dasein Jekatharina Michailowna bereitete, war die Verantwortlichkeit, für seinen Hunger des Abends zu sorgen. Wahrhafttg, es war Sehnsucht in. Jekatharina, diesen Hunger, der mit naturhafter Pünktlichkeit allabendlich um die neunte Stunde nach ihrer Nahrung begehrte, zu stillen. Wenn sie in Vorbereitung ihn erwartend, in ihrer kleinen Küche stand, liebte sie ihr Leben, das sie in dieser Stunde ohne Herrn Pjott sich nicht mehr denken konnte.
Ja, sie waren gegenseitig für einander da, auf dieser leeren Welt, wo so viel Geschrei war, so häßliche Farben, und wenn er endlich kam und nach dem, was sic für ihn hier bereit hielt, verlangte mit seinem herrlichen, kindlichen Hunger, bann war
die Welt gut, bie Wünsche würben erfüllt unb bie Seele war i-.'cht mehr allein.
An alles bachte Jekatharina Michailowna an biesem Morgen, als sie vor ihren Spiegelfensterscheiben stand, und sie entsann sich des kleinen Liedchens von der Liebe, das die Mädchen im Frühling singen. Aber Jekathattna sang nicht, sie war zu klug. Sie grübelte und besah ihr Gesicht. Und sie ftric) ihr Haar aus der Stirn und lächelte. Ja, ich bin hübsch. Ich habe große Augen und einen offenen Mund.
Da trat unten in den Hof ein Leiermann, winselte fein ausgesungenes Litd und die Menschen reckten neugierig die Köpfe aus den Fenstern, und manchmal fiel eine Münze, hart wie eine Nuß, von oben herab auf die Pflastersteine.
Ach, Jekathattna Michailowna wurde traurig. Wie lange ist der Tag bis zum Abend! Und in so einem kleinen Lied ist die Traurigkeit gefangen, die dann ausbttcht.
Der Leiermann fang etwas, das sehr luftig fein foHte, oh, wie traurig klang es.
In dem Hose spazierten viele Kinder, und sie warfen einander mit den Papieren und waren laut und ausgelassen, und aus den Küchen roch das heiße Fett,
Wie gut war es, daß Jekatharina für den Abend etwas einzukaufen hatte, nun ging sie fort aus dem Haus, auf die muntere Straße, auf die Straße mit den Pferden, den Menschen, in das lebendige Leben, das hatt und schön ist und ba$ man sehen muß, weil es für jeden anders sich zeigt.
Vor den großen Sabenfenftem besah Jekathattna ihre Gestalt, sie hatte Zeit, sie verweilte. Nun kaufte sie für ihren Abenb, für ben Hunger Herrn Pjotrs. Es war wie eine große Heimlichkeit, eine heilige Heimlichkeit. Wohin sollte sie ben langen Tag benn gehen? Wo sollte sie bie Stunben »erbringen? Sie hatte keine Freunbin, keinen Freunb, keine Verwanbten, sie hatte nicht einmal einen Hunb ober einen Vogel, wie bie anbem Einsamen, zu bem sie reben unb etwas von ihrer verschlossenen Zärtlichkeit verschenken. Aber Jekatharina erwartete ja Herrn Pjott. Unb sie bachte: ich liebe ihn ja nicht. Nein, wie leib ist es mir, baß ich ihn nicht liebe ... Aber warum vermag ich ihn nicht zu lieben?
Unb sie gebuchte an seinen hatten Schritt auf ber Diele unb an bie Art, wie er sich bes Morgens räusperte, unb an seinen gierigen Biß in bie gebackenen Semmeln.
Aber ber Tag war lang . . .
Oh, Jekatharina Michailowna stand in ihrer Küche unb wartete auf ben Schritt, ber zuerst tief bie Stiege heraufsteigen mußte, unb sie wartete auf bas Raffeln bes einen Schlüssels, ben sie kannte unter vielen, unb sie wartete auf ben einen Menschen. Ihre Hände gaben die Zärtlichkeit den Dingen, bie sic, als zarte Verwöhnung ihm bereitete.
Da war Herr Pjotr.
„Guten Abenb, Jekatharina Michailowna.'
„Guten Abenb, Herr Pjotr."
„Was gibt es Gutes, Jekatharina Michailowna?"
,Mie erging es Ihnen, Herr Pjotr?"
„Ach, Jekatharina Michailowna, es ging mir nicht gut."
„Was soll bas heißen, Herr Pjotr?"
„Ja, Jekatharina Michailowna, es ist eine Vcränberung in meinem Leben, bie uns beibe stören wirb."
„Sprechen Sie doch, Herr Pjotr."
„Ich ziehe fort, in eine andere Stadt."
„0 Herr Pjotr."
„Ja, Jekatharina Michailowna, es wird mir schwer."
„Das ist mir arg."
„Ich weiß auch nicht, wie ich mich gewöhnen soll, Bei jemand Fremden zu wohnen. Jekatharina Michailowna?"
„Nichts, Herr Pjott. Ich habe mich sehr an Sie gewöhnt." „Möchten Sie vielleicht mit mir ziehen, Jekatharina?" „Nein, nein. Ich kann ja nicht fort."
„Ich will Sie besuchen."
„Ja, Herr Pjotr. Sie werden mich hier immer finden".
„Ich werde Sie immer finden und ich will kommen." „Wann werden Sie denn kommen, Herr Pjotr?"
„Bald, bald. Es ist ja nur mein Berus, der mich forttreibt, ich bliebe ja viel lieber hier.. Es ist fo gemütlich bei uns. Nicht wahr?"
„Ja, gemütlich. Gemütlich, das ist es wohl. Aber warum essen Sie nicht? Alles ist kalt geworden, was ich für Sie bereitet habe."
«Ich esse schon. Jekatharina."
„Herr Pjotr, Sie werden ganz irgendwo anders wohnen, ich aber werde allein fein."
„Ach, Jekatharina Michailowna, ich will sehen, daß ein anderer zu ihnen kommt. Ihr Zimmer soll nicht leer stehen."
„Es wird ja ein Fremder fein . . ."
„Hören ^Sie, Jekathattna, wollen Sie nicht heute mit mir ausgehen? Sie gingen niemals mit mir, wenn ich Sie darum bat, und heute sind wir beide nicht froh, es ist auch ein Abschied, sagen Sie nicht nein."
„Ich gehe mit Ihnen aus, Herr Pjott. Wohin wollen wir denn?"
„Wir gehen in das kleine Restaurant unter der Brücke."
„Ach, Herr Pjotr, Sie essen nichts von meinen Speisen?"
„Es ist alles kalt, Jekatharina, kommen Sie, gehen wir gleich..."
„O Herr Pjott, ich ^nme schon."
Da nahm Jekathattna Michailowna ihren blauen Mantel, der am Tage alt war, in der Nacht aber schön wie Sammet' und fie wusch ihre Hände mit Rosenseife unb sah nicht mehr'