Samstag, 1. Juni 1935

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Erstes Morgeaitlatt

79. Jahrgang Ur. 376

ZWrimatige Ausgabe

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Kouisson mit der RegiernugsdUdung deaustragt.

Aach er verlangt ein Ermächtigungsgesetz. Paris ist ruhig.

(Drahtmeldungunseres Korrespondenten.)

8b- Paris 31. Mai. Der Kammerpräsident Bouisson hat den Auftrag beÄ Ltaotsoberbauptcs zur Bildung der neuen Regie­rung'qrundsänlich angenommen, aber erst heute morgen um 9 Uhr iniö nicht schon im Laufe der Nacht, wie angekündigt worden war. Infolgedessen ist Frankreich in diesem Augenblicke noch ohne Regierung und die in Aussicht gestellte blitzartige Lösung der Krise läßt auf sich warten. Die Börse ist wie gewöhnlich e r - ö ff'n et worden nachdem einige Erwägungen angestellt worden waren ob es nicht zweckmäßig sei, sie bis Montag geschloffen zu hallen' Die Ansicht der Makler, daß eine solche Schließung das Publikum unnötig erregen werde, hat überwogen. Diejenigen Persönlichkeiten, die mit der Regierungsbildung beschäftigt sind, haben sich übrigens in diese Frage nicht eingemischt, ein Zeichen twiir, daß sie die Lage als ungefährlich betrachten und eine Panik für ausgeschlossen halten.

Diese Meinung hat sich vorläufig als richtig erwiesen. Die allgemeine Nervosität, die in den letzten Tagen herrschte, hat mit dem heutigen Tage eher ab- als zugenommen, was bis zu einem gewissen Grade auf die Einmütigkeit der Kammer in ihrem Bekenntnis zur Verteidigung der Währung zurückzu- sühren ist. Die Börse eröffnete denn auch verhältnismäßig ruhig, und zwar mit durchweg anziehenden Kursen, nicht nur für die Staatsrenten, sondern auch für die Aktien und die internationalen Werte. Der Devisenmarkt zeigte sich ebenfalls widerstandsfähig alles Anzeichen dafür, daß der Höhepunkt der Nervosität über- ftbeitten ist und daß das Publikum das Ende der Krise vor sich sieht.

Die Regierung Flandin ist heute morgen um 1.45 Uhr in die Minderheit versetzt worden.'Die Näheren Umstände haben wir bereits geschildert.' Auffallend ist die. große. Stimmenzähl, die sich gegen Flandin ausgesprochen hat. Es fehlten ihm nicht weniger als 149 Stimmen, da das rechte Zentrum im letzten Augenblick zur offenen Gegnerschaft übergegangen war und große Teile der Radikalsozialen mit sich gerissen hatte. Es war. also die vollendetste und vorbehaltloseste Preisgabe, die man sich nur vorstellen kann. Flandin befand sich zu diesem. Zeitpunkt schon längst nicht mehr in der Kammer, da er sich unmittelbar nach seiner großen Rede auf den Wunsch seiner Aerzte zurückgezogen hatte. Infolgedessen führte der Justizmlhister P e r n o t in seiner Eigenschaft als Vize­präsident die geschlagene Regierung zum Staatsoberhaupt, welches die Demission annahm und dem Justizminister die besten Wünsche für die Gesundheit Flandins übermittelte. Inzwischen hatte der Kammerpräsident Bouisson, der auf die Entwicklung und die ihm dabei zugedachte Rolle vorbereitet war, schon die ersten Schritte getan, die zur Lösung der Krise führen sollen. Noch in der Nacht setzte er sich mit den Sozialisten Blum und Frossard sowie mit den Ministern Mandel und Herriot ins Benehmen. Um vier Uhr morgens wurden jedoch alle Besprechungen abgebrochen und man ging schlafen.

Heute morgen um neun Uhr erschien der weißbärtige Kammer­präsident Bouisson frisch, rosig und ausgeschlafen, selbst sein Auto führend, im Elysee und sprach eine halbe Stunde mit dem Präsi­denten der Republik. Er erklärte daraufhin, daß er den Auftr a g zur Regierungsbildung grundsätzlich annehme.Der Präsident der Republik hat mich aufgefordert, das neue Kabinett zu bilden. Ich habe zuerst abgelehnt mit der Begründung, daß Pierre Laval mir bedeutend besser dafür qualifiziert erscheine als ich selbst. Auf das Drängen des Präsidenten der Republik habe ich beschlossen anzunehmen. Ich werde jetzt meine Befragungen be­ginnen, und ich kann Sie versichern, daß es mein Wunsch ist, ein Ministerium zustande zu bringen, welches im Zeichen der um- fasiendsten Einigkeit stehen soll." Der Kammerpräsident hat dann noch zu verstehen gegeben, daß diese umfassende Einheit Persön­lichkeiten wie den rechtsstehenden. Minister Marin und den Sozia­listen Frossard, der am rechten Flügel seiner Partei steht, einbe- greifen solle.

Die ganze Haltung des Kammerpräsidenten zeigt, daß von irgendwelcher Aufregung und Ueberstürzung keine Rede sein kann. Zwar weicht er von feiner ursprünglichen Ankündigung, in weni­gen Stunden eine Regierung zustande gebracht zu Haben, ab. Aber er tut dies offenbar in dem Bestreben, deutlich zu machen, daß die Lage normal ist und zur dramatischen Uebereilung

keine Veranlassung vorliegt. Diese Haltung hat denn auch bisher schon eine gewisse psychologische Wirkung verbreitet.

Bouiffon hat wenig Besuch empfangen, offenbar führt er seine Verhandlungen überwiegend telephonisch. Infolge­dessen liegen keine neuen Anzeichen aus der Wahl der Minister vor, immer mit der Einschränkung, daß Laval selbstverständlich die Leitung der Außenpolitik behält. Entscheidend dürften die Verhandlungen sein, die mit der Radikalsozialen Partei geführt werden. Diese hat heute vormittag Herriot und Delbos zum Kammerpräsidenten gesandt, wobei sich herausstellte, daß die Sozialisten, die von Bouiffon selbstverständlich zur Regie­rungsbeteiligung eingeladen worden waren, bereits so gut wie endgültig abgelehnt hatten, was eine die Partei nicht bin§- benbe Beteiligung Froffards an der Regierung nicht ausschließen würde.

Der Kammerpräsident erklärte den beiden radikalsozialen Poli­tikern, daß er ebenso wie die gestürzte Regierung ein Ermäch­tigungsgesetz verlangen werde, und zwar in erster Linie, um die Kassenlage des Schatzamtes zu erleichtern und um sofort in augenfälliger Weise zur Verteidigung der Währung übergehen zu können. Dieses Ermächtigungsgesetz sollen die verschiedenen Frak­tionen jetzt schon grundsätzlich gewähren, so daß es von dem Plenum der Kammer ohne Aussprache angenommen werden könnte. Bouisson stellte damit eine scharfe Forderung, welche die beiden radikalsozialen Führer nicht unbedenklich ge­stimmt hat. Ihre Fraktion und auch die übrigen.Gruppen werden sich im Laufe des Nachmittags darüber entscheiden, ob es ihnen möglich erscheint, dem zukünftigen Ministerpräsidenten dsts Er­mächtigungsgesetz so bedingungslos zu gewähren. Im Kern der Krise sitzt also immer noch das Ermächtigungsgesetz, und zwar aus denselben Gründen, die für Flandin galten, nämlich weil es dieser Regierung genau wie der vorigen in erster Linie darauf ankommt, möglichst schnell das Budgetdefizit aus der Welt zu schaffen, den Franc zu verteidigen und die Angriffe der Spekulation zurückzu­schlagen.

Tie neue Regierung soll also parteipolitisch ungefähr, auf derselben Formel aufgebaut sein wie die vorige, nur mit einer etwas breiteren Basis, da Bouiffon sich auf die sozialisti­schen Elemente einerseits stützen will und die Gruppe Tardieu auf der Rechten ihm andererseits schon ihre Unterstützung versprochen bat. Von einem Kurswechsel kann also gar keine Rede sein, nicht einmal von einer wesentlichen Aenderung. Die Frage läge demnach nahe, warum Flandin überhaupt gehen mußte. Er hat seinen Platz nicht kampflos geräumt. Im Gegenteil, die letzten Stunden seiner Regierung waren ein einziges erbittertes Ringen um die wenigen Stimmen, die ihm nach seiner Meinung zum Erfolg fehlten. Aber die Behauptung Flandins, daß die Ablehnung des von ihm geforderten Ermächtigungsgesetzes gleichbedeutend mit dem Fallen- luffen oee Währung sei, daß also die nächste Regierung gezwun.^-- vermaßen eine Devalvationsregierung sein müsse, verfehlte ihre Wirkung, zumal Paul Reynaud vorher in überzeugender Weese erklärt hatte, daß er selbst die Währung im Augenblick um jeder. Preis zu verteidigen wünsche.

Die Kammer richtete zunächst ihre Feindschaft gegen den Finanzminister und gegen seine engherzige Deflationspolitik. Be­sonders Marcel Deal hieb immer wieder auf dieerbärmliche Buchhalterpolitik" ein. Flandin warf dann Ballast aus, indem er feinen Finanzminister fallen ließ, aber auch das blieb unwirksam. Die letzten Stunden zeigten, daß das Parlament kein Ver­trauen mehr in den Ministerpräsidenten hatte und daß es nicht mehr gewillt war, eine Unterscheidung zwischen Martin und Flandin vorzunehmen. Flandin wurde abgelehnt, weil er nicht mehr genug er selbst war, das heißt, weil er seine Politik der De­flationsunterbrechung und Wirtschaftsankurbelung aufgegeben und sich in eine ideenlose Politik der Ausgabendrosse- l u n g hatte hineinziehen lassen. Auch seine körperliche Schwäche sprach schließlich gegen ihn. Man hielt ihn nicht mehr für fähig, bie schweren Aufgaben der nächsten Woche zu meistern. Eine vor sieben Monaten mit so viel Hoffnungen und, wie man ehrlich sagen muß, auch mit so viel Aussichten und Talent begonnene Anstrengung scheiterte also in letzter Stunde an dem Mißtrauen der Volksvertretung, welche die Krise der Finanzen nicht so panisch beurteilt, daß die Volksvertretung sich ihrer Rechte nun«

'mehr begehen und die Politik in den Hintergrund treten müsse. Herriot hat heute morgen im Gespräch mit Bouisson aufs neue vom Primat der Politik gesprochen, Man sieht, daß die reine Politik in Frankreich ihre Rolle noch nicht ausgespielt hat, was ein Zeichen für die großen moralischen, wirtschaftlichen und finanziellen Reserven des Landes ist.

Herr von Hassel bei Mussolini.

Deutschlands Bedenken gegen die Moskauer Pakte.

Nb Rom, 31. Mai. Der deutsche Botschafter Herr von H a f s e l, der vor einigen Tagen von Berlin zurückgekehrt ist, hatte vorgestern eine Unterhaltung mit Staatssekretär des Aeußern S u v i ch und gestern eine solche mit Mussolini, in welcher das vor der Abreise des Botschafters nach Berlin geführte Gespräch fortgesetzt und auf Grund des inzwischen Erfolgten erweitert wurde.

Bei der Unterhaltung mit Suvich wurde der italienische" Re­gierung offiziell Mitteilung darüber gemacht, daß Deutschland in Rom ein ausgearbeitetes Projekt eines Luftpaktes, das die sichere Anwendung des Locarno-Prinzips auf die Luftwaffe darstellt, überreicht habe. Heber den Inhalt erfolgte keine Mit­

teilung, da die Weiterbehandlung dieses Problems bei End­land liege.

Ferner wurde ein Memorandum überreicht, in welchem £cutj(f)Ianb feine Bedenken gegen die Auswirkung des sowjei- ruffisch-französischen und des sowjetruffisch-tschechischen Unter­stützungspaktes vorlegt. Es handelt sich um die Einwände, bie sich aus der juristischen Struktur dieser Abkommen er­geben. Es entsteht die Frage, ob sie mit den derzeitigen Verpflich­tungen des Locarno-Vertrages vereinbar sind. Tie Bedenken be­stehen vor allem darin, daß die durch diese neuen Pakte ver­pflichteten^ Lovarnomächte int Falle der Unwirksamkeit der Kon­sultation im Völkerbund aus eigener Initiative vorgehen.

Der. italienische Unterstaatssekretär nahm beide Punkte für die italienische Regierung zur Kenntnis, eine Gegenäußerung der italienischen Regierung liegt noch nicht vor.

In der Unterhaltung zwischen Mussolini und Hassel wurde die allgemeine europäische Lage und die Paktpolitik besprochen. Als eine der Grundlagen für die Gespräche konnte das am Vor­tage überreichte Memorandum dienen. Ferner wurde das Problem der Donau -Konferenz besprochen.

Gino Initiative, die verwirrt.

Die bevorstehende Abstimmung über die schweizerische Wirtschaftspolitik.

(Vonunserem Korrespondenten.)

P Zürich, Ende Mai.

Am 2. Juni wird das schweizerische Volk über ein V o l k s- begehren abzustimmen haben, das unversehens zur Grund­lage einer mehr lauten als überzeugenden Diskussion über Richtung und Methoden der schweizerischen Wirtschafts- und Währungspolitik geworden ist. DasVolksbegehren zur Be­kämpfung der wirtschaftlichen Krise und Not", kurz, aber un­genau auchKriseninitiative" genannt, ist ein typisches Produkt der geistigen und materiellen Not, wie sie die Krise fast auf der ganzen Welt ausgelöst hat. Die Schweiz mit ihren beträchtlichen Vermögensreserven hat den Krisenwirkungen verhältnismäßig am längsten Widerstand leisten können. Infolgedessen herrscht heute in weiten Volksschichten die Auffassung, daß cs nützlicher sei, Reserven zu verzehren, so lange sie überhaupt noch zu er­fassen seien, als sich freiwillig auf den Weg der allgemeinen Ver­armung zu begeben. Auch die Bundesregierung hat sich bisher dieser Auffassung mit guten Gründen angeschlossen und der Wirtschaft große Summen zur Stützung und Belebung zuge­führt. Daß die Kaufkrafttheorie der Anpassungsidee vorgczogen wurde, entsprach und entspricht zweifellos den Auffassungen der meisten schweizerischen Wirtschaftsgruppen, gegen die von der reinen Exportindustrie zwar eine gewichtige Argumentation, aber wenig Macht einzusetzen war; das umso weniger, je mehr sich herauszustellen schien, daß die hauptsächlichen Hemmungen für die Wiedergewinnung des Ausfuhrmarktes nicht im Preise, sondern in den protektionistischen Abwehrmaßnahmen der Ab­satzländer begründet waren.

FürErhaltung der Konsumkraft*.

In dem Maße, wie der Schutz der landwirtschaftlichen Er­zeugung und die Aufrechterhaltung der inneren Kaufkraft zu­gunsten der stark ausgebauten Binnenindustrie leitender Ge­danke der Wirtschaftspolitik wurde, wuchsen natürlich die Wirkungen auf die öffentlichen Finanzen. Der Rücktritt des verantwortlichen Leiters der Wirtschaftspolitik, Bundesrat S ch u l t h e ß, war im Grunde nur die Dokumentierung der Besorgnis, daß eine Weiterführung des kostspieligen Interven­tionismus in dem Augenblick zur gefährlichen Belastung der Währung führen müßte, wenn weder Steuern noch Anleihen die Deckung der wachsenden Defizite ermöglichen könnten. Ob dieser Augenblick bereits eingetreten oder in die Nähe gerückt war, als Schultheß seinen Schritt unternahm, darüber gehen auch heute noch die Meinungen selbst im Kreise der politischen Freunde des früheren Wirtschaftsministers auseinander.

Die Kriseninitiative, eingebracht vorwiegend von einem den Gewerkschaften nahestehenden Kreise, sollte die verfassungs­mäßige Grundlage für eine Bekämpfung der Deflationsforde­rungen der Exportinduftrie liefern. Sie verlangt, in die Ver­fassung eine Bestimmung einzufügen, die den Bund verpflich­tet,umfangreiche Maßnahmen zur Bekämpfung der Wirt­

schaftskrise und ihrer Folgen, zum Zweck der Sicherung einer ausreichenden Existenz für alle Schweizerbürger" zu treffen, -ter Bund wird aufgefordert, für Erhaltung der Konsumkraft des Volkes durch Bekämpfung des allgemeinen Abbaues der Löhne und J)cr landwirtschaftlichen und gewerblichen Preise zu sorgen. Er soll Maßnahmen ergreifen für planmäßige Ar­beitsbeschaffung, Erhaltung tüchtiger Bauernfamilien durch Entschuldungsmaßnahmen und Zinssenkungen, für Gewäh­rung einer ausreichenden Arbeitslosenversicherung und Krisen­hilfe, Regulierung und Kontrolle des Kapitalmarktes und vor allem des Kapitalexports, Kontrolle der Kartelle und Trusts. Zur Verwirklichung dieser Forderungen wäre der Grund­satz der Handels - und Gcwerbefreiheit auf- zuh eben, lieber die Finanzierung sagt der Entwurf, daß die notwendigen Mittel in Formzusätzlicher Kredite" und durch Ausgabe von Prämienobligationen, Aufnahme von An­leihen und aus lausenden Einnahmen zu beschaffen seien.

Ein Stichwort für bie Spekulation.

Daß ein Volksbegehren, das jedem Bürger die Sicherung einer ausreichenden Existenz zu sichern verspricht, bei der Einbringung bereits die Unterschrift von mehr als einem Drittel aller Stimmberechtigten erhalten hat, erscheint be­greiflich. Die Auseinandersetzung über Für und Wider hat heute durch den zeitlichen Zusammenfall der Abstimmungsvor- bereihing mit be* vorübergehenden Frankenschwäche ein völlig anderes Gesicht erhalten. Die Abstimmung über die Kriseninitiative wird seit etwa zwei Monaten im In- und Ausland als Entscheidung über das Schicksal der Währung dargestellt. Der Satz, daß man über Währungsfragen keine öffentliche Diskussion veranstalten solle, wird auch in der Schweiz längst nicht mehr anerkannt. Sonst wären die Geg­ner der Initiative wahrscheinlich nicht auf den gefährlichen Gedanken gekommen, unter den Gefahren dieses Gesetzes die einer Vernichtung der Währungsparität in den Vordergrund ZU rücken. Sie mochten das gutgläubig unter Berufung auf frühere Abstimmungsfälle getan haben, in denen der Hinweis auf die Währung ohne Schaden nach außen erfolgt war. So aber hat die Kriseninitiative zweifellos die wirkungsvollsten Argumente zur Diskreditierung der finanziellen Sage geliefert.

.In der Schweiz selbst hat matt, als die Depression in Gestalt massenhafter Abzüge von Auslandskapital auf dem Höhepunkt war und kritische Stunden für das Bankgewerbe brachte, bei den Gegnern und Freunden der Initiative bie Diskussion abzubämpfen versucht. Aber es war schon zu spät, um auch das mißtrauisch gewordene Ausland noch auf ein anderes, weniger kompromitierendes Thema abzulenken. Und so mußte man den Dingen schließlich ihren Lauf lassen und die Währungsverteidigung den allerdings ausreichenden tech-

Wie die Nachtigall ihren Hesang kernte.

Von Emil Bolzner.

Katharina im Feuer oder Das Liebes­wunder" heißt das neue Buch von Emil Belzner, das demnächst im S. Fischer Verlag, Berlin erscheint. Alle Welt wird in diesem phantasmagorischen Roman eines irischen Mädchens und eines Engländers lebendig, alle Kreatur erhebt in dieser Kosmographie der Siebe . ihre Stimme. Wir bringen den Gesang der Nachtigall

zum Vorabdruck:

Hört, hört: Ich bin das Nachtigallenmännchen Joseph, der zweihunderttausendste meiner1 Dynastie. In den Büschen zwischen dem Blauen und Weißen Nil verbringe ich den SSinter. Wenn der Weißdorn grünt, komme ich zu euch mit weinen Liedern. Hört, hört: Nicht von Anfang an fang ich jo schön, wie ich jetzt finge. Der Erdsänger Joseph, der zwei­hunderttausendste seiner Dynastie, war anfangs eine stümper­haft stammelnde Nachtigall. ,Füd, fiib' machte ich und ,Kroäk'. Später erst kam das ,Huit toiib' und bas schnarrende ,Karr', später erst kamen die herrlichen Strophen meines unvergäng­lichen Liebes, später erst kam bas zornige ,Räh' und bas trauliche ,Tak'. Ich kann Fröhlichkeit in Melancholie ver­wandeln und Melancholie in Fröhlichkeit. Ich kann mit weinem Schlag aus der Fülle in bie Einsamkeit fallen unb

der Einsamkeit wieder in das Unendliche ziehen. Mein ^)kb ist echt, denn es ist gelernt und erlitten. Darum auch ist E§. so schön. Darum auch kann ich dem geliebten Liede immer wieder eine Strophe hinzufügcn, noch eine und noch eine, solange die Nachtigallenjahre dauern. Hört, hört, wie ich weinen Gesang gelernt habe und wie dieses Lernen selbst oas Lied der Liebe ist:

In einem Garten wurde ich geboren. In die Nähe dieses Gartens kehre ich stets zurück, wenn bei euch der Weißdorn firünt Kennt ihr die Wunder des Nachtigallenzuges vorn Blauen unb Weißen Nil zu euch? Nachts reisen wir. Zuerst dse Nachtigallenmänner, dann die Frauen und Jungfrauen. 28ir fingen in unserem heimatlichen Busch unb rufen sie herunter, wie sie ankommen, rufen bie Gattin aus bem Dunkel oer Nacht über uns, ober bie unbekannte Braut, ber unsere Stimme Nest unb Brut unb ein langes glückliches Leben verheißt. Hört, hört, wie es war:

v Die unbekannte Braut saß über mir int Gezweige unb lauschte meinem Lieb. Ich begrüßte sie, aufrecht sitzenb, mit Sesenkten Flügeln und gehobenem Schwanz. Die du sielst aus oen Scharen der Nachtigallenfrauen, sagte ich, fei mir will­kommen. Hier ist ber Gau ber guten Sänger. Mein Vater war ein trefflicher Lehrmeister. Im Vorjahre bracht» « ttd»,<

trotz seinem Alter immer noch ein feuriger Liedermacher, die ersten Schmettertouren und Flötentöne bei.. Hoch oben im nächtlichen Dunkel hast du den prüfenden Schrei meiner Sehnsucht gehört. Und siehe, schon habe ich wieder einen Ton mehr; o höre, aus den Herrlichkeiten der Nacht ge­fallene Braut, höre, ist das nicht der Anfang eines Liedes? Kannst du dich erinnern, als du auf die Welt kamst, war alles voll solcher Lieder und dann nicht mehr.

So wuchs mein Gesang, so fand ich Ton um Ton und Strophe um Strophe. Meine Stimme erhob sich um meine liebe Nachtigallenfrau. Wenn sie sich die Flügel putzte, wenn sie ein Würmchen fand, wenn sie Wasser trank, wenn sie dem Schlafe nahe war oder dem Erwachen, mein Lied wuchs, und bie eterne werben sich immer daran erinnern, wie es geworden ist. Sah ich einen Menschen, so hielt ich inne, denn ich erschrak anfangs vor diesen Riesengesichtern, die nach einer Blume oder nach einem Zweig suchen unb aussehen, als feien sie unter Steinen unb Götzenbilbern groß geworben. Doch je mehr ich meine Nachtigallenfrau liebte, desto mehr gewann ich auch sie lieb. Zuerst sang ich weiter, wenn ich Kinder sah, unb bann auch, wenn bie Großen kamen. Sogar für Katze, Wiesel unb Marder und für alle meine Feinde ward mir ein Lied. Und ich lernte, daß ein Lied nicht immer lieblich fein muß, daß es auch Warnung und Schrei und Klage sein kann und Trotz, daß es auch nützlich sein kann und allem Geliebten eine Hilfe. Im Brombeergerank, in der Stachelbeerhecke und im gehäuften Laub wurde ich groß mit meinen vielen Strophen. Ich habe Fledermaus, Uhu und Adler gesehen, doch sind sie vor meinem Lied nicht größer als Käfer und Libellen und Schmetterlinge. Und nichts Größeres ist denn die Nachtigallin, die süße schlichte Luszinia, die mit mir wohnet und ein Nest mit mir hat.

Versteht ihr, wie mein Lied geworden ist, hört ihr, daß es nie enden kann?

Einmal hat mir ein Räuber die Freundin streitig ge­macht; da stieg meine Trauer gen Himmel unb brachte mit bie Freunbin roieber, benn nichts Schöneres gibt cs zu fingen als bas Verlorene, und nichts begeistert mehr als bas Wieder- gefunbene. Ein Hauch von Gerechtigkeit kam in mein Lieb und ein Glanz von Treue.

Einmal sah ich einen toten Menschen den Nil hinab- chtoimmen, sein Gesicht war mit Wunden bedeckt, seine Augen schon leer; es war wiederum eine neue Strophe meines Ge­sanges. Hört, diese Strophe war es... freut sie euch nicht? Es steht nichts drin von ber Geburt unb vom Leben dieses Menschen, nichts von seinen guten und von feinen schlechten Taten, aber etwas Wahres ist doch daran, selbst wenn die Töne freudig sind und aus einem fernen Glück zu kommen scheinen. Etwas Wahres ist daran, hört ihr es, könnt ihr es ermessen?

Einmal sah ich ein breihundertjähriges Krokodil am Ufer fregeff «ad sich ft*mwn. ES lachte mit seinem halbgeöffneten

Ton, den er von ber Erbe bringen hörte ober ben er schon Bekenntnis einet grau, bie in eiferiü-

r r t ö, 7 r» . . . 1 . JlllTtoalllina DIP. JTlhrtl itl iimripnrHffit kni fitr wirsXÄ et-«*,c,,.

ehrung, unter mir waren bewaffnete Marschkolonnen unb ftngenbe Gärtner, unter mir war viel Not unb Geschrei um ben gleichen Gott, war viel Mummenschanz unb Beschwörung um die gleichen Götter, unter mir schallten Kommanbos unb Grablieber, unter mir zeugten Feinbe ein kommenbes Ge­schlecht. Alles erschaute ich aus ber Dunkelheit bes Flugs unb erkannte wohl bie geheime Weise in ihm, bie auf allen Lippen liegt; erkannte wohl bie Palme, bie allem zukommt; erkannte wohl bie träumenbe Ruhe, bie alles teilet. Ach, bas Nachtigallenmännchen Joseph war ba oben in seiner Schar ein Sernenber, ein Piepsender, ein Eifersüchtiger auf jeben neuen

Rachen so zart vor sich hin, als seien breihunbert Jahre am Nil ein friedliches Dasein, ein sanftes Wehen von Morgen gen Abend. Wiederum hatte ich eine Strophe mehr, eine fast lustige Strophe, Gott wird mich ihretwegen nicht tadeln.

Einmal sah ich ein Löwenpaar an einem Wasser trinken. Zwei meiner schönsten Strophen flammen daher: von diesem starken Schlürfen, von diesen ruhigen fernen Blicken, von dieser Kraft der Schmeicheleien, von diesem königlichen wappenlragenden Verschwinden im Steppengras.

Einmal sah ich die Geburt eines Kamels unter einer Palme, da verstummte ich, und diese tiefe Wüstenpause ist bie Pause zwischen meinen Siebern. Als käme ein König zur Welt, so war mein Verstummen; als sei ber Schmerz heilig geworben, st> war mein Schweigen; als sei nichts Wichtigeres auf Erben als biefe Kamelmutter mit ihrem Kinde, so war meine Andacht. Einen Tag und eine Nacht blieb ich in der Nähe dieser Ställe, unter der Sonne und unter den Sternen. So lange also müßte ich jedesmal nach meinem Sieb schweigen, wenn mein Sieb die Wahrheit fein sollte. Es ist dennoch die Wahrheit. Schaut ihr die Geburt in der Wüste, dies Wunder zwischen Sand und Dornen, dies gnadenreiche Opfer eines Leides an das All? Kein Adler fliegt so hoch und keine Gazelle eilt so weil, als daß sie die Einsamkeit dieser Stun­den unb bie Größe biefer Geburtsstätte ermessen könnten. Vermögt ihr es zu schauen? Euer Auge finbet kein Ende, euer Herz keinen Trost. Die Nachtigall schweigt einen Atem­zug lang. Hört auf mein Sieb!

Ich Preise bie Siebe. Uebcr Berge unb Meere bin ich geflogen, ich habe unter mir viel entstehen unb verderben gesehen, ich sah Siege flattern unb Schiffe sinken, ich sah Schwerter blitzen unb Früchte im Mondschein hängen, alles Sebenbige nahm ich wahr auf ber Reise vom Abendland ins Morgenland und vom Morgenland ins Abendland, fruchtbare Sieder waren unter mir und Schlachtfelder, Tiere mit Mcn- schengesichlern und Menschen mit Tiergesichtern, Flüche und Segenssprüche unb vielerlei Worte bes Anrufs unb ber Ver-

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Aufwallung die Rivalin umgebracht hat, für welche Tat aber nicht die Täterin verurteilt, sondern der Mann, um den beide Frauen ge­stritten haben, des Mordes angeklagt, zum Tode verurteilt und

Das, was Erich Ebermayer in diesen vier Sitten an Handlung geschehen läßt, ist leicht skizziert. Es ist eine einfache

heimatlichen Bäche, Wassergräben unb Büsche; baß es nichts Vollendeteres gibt als die heimatliche Ebene, von leichten laubreichen Hügeln durchzogen; daß es nichts Schöneres gibt als die Nähe der Menschen, die aufreizt zu Sobgesang unb schmetterndem Jauchzen, zu kurzer Klage unb zu langen Läufen. Dreist und neugierig nennen sie mich. Wenn sie wüßten, die Guten, wie sehr ich aus mein Lied bedacht bin, wür­den sie mich noch mehr lieben. Jeder toten Nachtigall würden sie göttliche Ehren erweisen, der Zug der Leidtragenden nähme kein Ende. Er nähme kein Ende, weil sie das Lied der Liebe so bezaubernd und frohlockend gesungen hat, weil sie Würmer, Käser, Bäche, Hecken, Menschen, Marder, Adler, Sterne und Laub zu einer einzigen Lust machte, an der der Prasser stirbt, aber der Demütige groß wird. Die Nachtigall ist bie einzige, bie einem großsprecherischen Helben mit ber Liebe entgegen« treten unb einen Mutlosen gegen bie .Uebermachl ber Greuel gürten kann. Stumm haben wir am Tag unsere Lieber ge­lernt, laut fingen wir sie in ber Nacht.

Um Johanni herum freilich enbet ber Nachtigallenschlag. Da finb bie Jungen im Nest. Sie probieren ihre Kehlen, sie wollen von ihren Vätern singen lernen. Sie wissen nicht, daß sie erst einmal übers Meer müssen, um den Ton des Heim­wehs zu finden, der der Ton der Töne ist. Dann können sie manches von der Meisterschaft der Nachligallenoäler lernen, doch das Bleibende nicht. Und darum verstummen wir an Johanni, damit keine falschen Lieder in die Well kommen An Erdengewurm, Ameisenpuppen, glattbäuchigen Räupmen und Beeren sollen sich die unschuldigen Kleinen üben, sollen sie dichten lernen und das Werden der Melodie. Die Väter schweigen, damit die Jungen nicht aus Mutwillen von schmerz unb Freube tirilieren unb sich auf bie Geläufigkeit unb Vollenbung bes Hergebrachten verlassen. Solche Fertig­keit und Eilelmeisterei gilt unter den Nachtigallen nicht. Singe das Lied deines Brotes, so fängt es an; finge das Lied demes Daseins, so heißt e$ da, das Sieb beiner Büsche Blumen, Tiere, Menschen unb Sterne. Singe bas Sieb deiner Gedanken, Schmerzen, Leiden unb Freuben, finge bas Sieb beiner Siebe.

Unb das Sieb ber Siebe ist groß. Es hängt voller Blüten unb Früchte, unb nie kommt ein Sebenber, bet erntet

Huit, toiib, tat, tat."

Der Kass Maasen."

Aufgeführl im Frankfurter Neuen Theater.

bei einem seiner Kameraden vornahm. Versteht ihr jetzt mein

Sieb, versteht ihr jetzt meinen nimmermüben Gesang?

ihr if '"»»» r«, ro jucDioess öngetiagt, zum Lode verurteilt und

, 0^11^: tgn Di. ..eicht, wenn ick euch läge, daß es zu lebenslänglichem Gefängnis begnadigt wurde. Ein beinahe

trotzdem nichts Schöneres tmb Unendlicheres gibt als die sckriminakistische? Stück; nicht mtf dem itnritm brr