Dienstag, 15. Marz 1938
Zweites Morgenblatt der Frankfurter Zeitung
Nummer 135 Seite 2
big!eit; das Deutsche Reich habe ein Interesse daran, daß die Schweiz das bleibe, was sie sei.
Für die Schweiz ist nunmehr die Frage aktuell geworden, wie sie ihre Beziehungen zu dem bisherigen Oesterreich zu gestalten hat. Der gegenwärtige schweizerische Gesandte in Wien, Dr. Jäger, ist zugleich schweizerischer Vertreter für Ungarn und wird voraussichtlich in dieser Eigenschaft unter Verlegung des Gesandtschaftssitzes nach Budapest weiter im Amt bleiben, während in Wien selbst ein schweizerisches Generalkonsulat errichtet wird, das von einem Berufsdiplomaien geleitet sein wird. Zu regeln sind ferner die wirtschaftlichen und handelspolitischen Beziehungen, wobei angenommen wird, daß zunächst „bisheriges Recht" in Geltung bleibe, bis eine neue Regelung getroffen sei. Diese würde sich auf den Handelsvertrag, die Regelung der Ein- und Ausfuhr, die Kontingentierungsabkommen und die Verkehrsfragen beziehen. Der Leiter der Handelsabteilung im Volkswirtschaftsdepartement wird in Kürze bereits mit den intereffier- ten schweizerischen Wirtschastskreisen Besprechungen aufnehmen, um die Neuregelung vorzubereiten. Insbesondere wird die An- paffung des bisher zwischen der Schweiz und dem Lande Vorarlberg bestehenden Vertrages über die Stickereiindustrie als notwendig befunden.
Verspätete Einsichten in USA.
(Kabelmeldung unseres Korrespondenten.)
M Washington, 14. März. Die amerikanische Presie kommentiert die Beschlüsse des gestrigen Tages mit den Gefühlen eines Beobachters, der widerstrebend eingestehen mutz, datz er bis heute die deutsch-österreichischen Beziehungen falsch beurteilt hatte. So er
klärt die „Washington Post', datz Adolf Hitler, als er von den historischen Bindungen zwischen Deutschen und Oesterreichern sprach, nur an die Wirklichkeit erinnert habe. Die Friedensmacher von Paris, die diese Tatsache übersehen hätten, hätten einen tragischen Fehler begangen. Denn nach dem Weltkriege seien die Oesterreicher ein hilfloser und hoffnungsloses Volk mit einer Vergangenheit, aber ohne Zukunft gewesen. Sie hätten die Wiedervereinigung mit Deutschland erstrebt, aber das sei ihnen durch die siegreichen Verbündeten verboten worden. Als die beiden Nationen dreizehn Jahre später versucht hätten, durch die Zollunion wenigstens wirtschaftlich eine Einheit zu bilden, sei dies an dem französischen Veto gescheitert, das ebenso entschieden wie staatsmännisch unklug gewesen sei. Es sei mit Bestimmtheit anzunehmen, daß eine Vereinigung Oesterreichs mit Deutschland schon int Jahre 1918 nützliche Ergebnisse gehabt haben würde.
Auch die „New Mark Times' gesteht, daß diese Entwicklung „u nvermeidlich' gewesen sei. Sie äußert die nun verspätete Einsicht, daß die Vereinigung Oesterreichs mit Deutschland schon vor Jahren hätte erfolgen sollen und meint, daß viele Oesterreicher, die längst überzeugte Anhänger Hitlers und bereit gewesen seien, in ihm den Retter Oesterreichs zu begrüßen, in diesem geschichtlichen Augenblick von Genugtuung erfüllt sein müßten. Das Blatt betont, daß die Vereinigung Oesterreichs mit Deutschland mit der für den Nationalsozialismus charakteristischen Gründlichkeit vollzogen worden sei. In ähnlichem Sinne äußert sich auch die „New Kork Herold Tribüne'. Sie unterstreicht besonders den raschen Gang der ©reigniffe und schreibt, daß Deutschland aus der Entwicklung der letzten Wochen als eine Nation von 73 Millionen Menschen hervorgehe, deren diplomatischer und machtpolitisches Prestige außerordentlich sei.
Maßnahme« gegen Kapitalflucht.
Uarnbergrhende Keschra«k«ngen im Aosrahkrngsverkehr.
Wien, 14. März. (DNB.) Amtlich wird mitgeteilt:
„Um etwaigen Versuchen einer politischen Kapitalflucht mit der gebotenen Entschiedenheit entgegenzutreten, hat die Bundesregierung ein Gesetz beschlossen, wonach der Bundesminister für Finanzen im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Justiz und dem Bundesminister für Handel und Verkehr für Geld-, Kredit- und Versicherungsunternehmungen Beschränkungen des Auszahlungs- Verkehrs im Jnlande sestsetzen kann. In Durchführung dieses Gesetzes hat der Bundesminister für Finanzen eine Verordnung erlassen, die nähere Bestimmungen über die selbstverständlich nur zeitweilig verfügten Beschränkungen enthält. In einem Merkblatt wird festgestellt, daß die mit dieser Verordnung getroffenen Maßnahmen zur Verhinderung der politischen Kapitalflucht dienen und sich auf den Auszahlungsverkehr im Inland beziehen. Für den Zahlungsverkehr mit dem Ausland gelten die einschlägigen devisenrechtlichen Bestimmungen. Im einzelnen wird unter anderem bemerkt:
1. Auf Einlagebücher und fällige Kasienscheine dürfen innerhalb einer Kalenderwoche nicht mehr als 1000 Schillinge — sofern aber die Einlagen auf fremde Währung lauten, nicht mehr als der Gegenwert von 1000 Schillingen — ausbezahlt werden.
2. Von Guthaben laufender Rechnung (Kontokorrent, Scheck- und Giroverkehr) dürfen in einer Kalenderwoche ebenfalls nicht mehr als 1000 Schillinge ober der Gegenwert von 1000 Schillingen auIgezahlt werden.
3. Heber Spareinlagen und Guthaben in laufender Rechnung, die nach dem 13. März 1938 durch Bareinzahlung oder Gutschrift des DerkaufSerlöser von Valuten und Devisen entstanden sind, kann jederzeit frei verfügt werden.
4. Die Gold- und Kreditunternehmungen sind berechtigt, Barauszahlungen, die den Betrag von 1000 Schillingen für die Kalenderwoche übersteigen, vorzunehmen, soweit ihnen nachgewiesen wird, datz die angeforderten Beträge zur Bezahlung von Dienst- ober Lohnbezügen, Ruhe- oder Versorgungsgenüssen, ähnlichen wiederkehrenden Leistungen, Versicherungsprämien oder sonst zur Deckung eines dringenden Bedarfs benötigt werden.
5. Ucberroeifungen der ohne Rücksicht auf den Betrag zulässigen Guthaben, die durch Ueberroeifung von einem Konto (Einlagebuch) auf ein anderes Konto bei derselben Unternehmung oder durch Ueberweisung von einem Konto bei einer Unternehmung an eine andere Unternehmung entstanden sind, unterliegen jedoch den Auszahlungsbeschränkungen der Verordnung, sofern sie nicht von der überweisenden Unternehmung nach Prüfung als nicht den Auszahlungsbeschränkungen unterliegende Guthaben bezeichnet worden find.
6. Spareinlagen, Kassenscheine und Guthaben in laufender Rechnung, die den AuSzahlungsbeschränkungen unterliegen, dürfen zum Ankauf von Wertpapieren verwendet werden. Die auf diese Weise eingekauften Wertpapiere müssen bei der Geld- oder Kreditunternehmung, die den Einkauf besorgt hat, in Verwahrung gelassen werden. Heber diese Wertpapiere darf nur im Wege eines Verkaufes durch die Verwahrungsstelle verfügt werden. Der Verkaufserlös darf nicht dar ausgezahlt werden, sondern ist einem Konto oder Einlagebuch des Verkäufers gutzubringen. Hinsichtlich dieser Guthaben gelten die AuSzahlungsbeschränkungen.
7. Der Erlös verkaufter Wertpapiere, gleichviel ob sie bei einer Geld- oder Kreditunternehmung in Verwahrung waren oder zum Verkauf erlegt wurden, darf nicht bar ausgezahlt werden, sondern ist einem Konto oder Einlagebuch des Verkäufers gutzuschreiben.
Solche Guthaben unterliegen gleichfalls den Auszahlungsbeschrän- fungen. Wird der Erlös verkaufter Wertpapiere zum Ankauf von Wertpapieren verwendet, so darf in diesem Falle Kauf und Verkauf kassenmätzig durchgeführt werden. Etwaige Restbeträge des Verkaufserlöses sind einem Konto oder Einlagebuch des Verkäufers gutzuschreiben und unterliegen den Auszahlungsbeschränkungen.
8. Ansprüche auf Lebensversicherungen, auf Rückkauf oder Vorausbezahlung dürfen von den Versicherungsanstalten nur bis 500 Schillinge für die Kalenderwoche ober zum Gegenwert dieses Betrages befriedigt werden.
9. Alle auf Gesetz oder Vertrag beruhende Beschränkungen in der Verfügung über Guthaben bei Geld- oder Kreditunternehmungen bleiben aufrecht.
10. Wird ein Schuldner infolge der Bestimmungen dieser Verordnung gehindert, eine Zahlungsverpflichtung zu erfüllen, so treten die wegen Nichtzahlung oder nicht rechtzeitiger Zahlung durch Gesetz ober Vertrag vorgesehenen Rechtsfolgen nicht ein.
11. Uebertretungcn bet Bestimmungen der Verordnung werden von den zuständigen Verwaltungsbehörden mit Geldstrafen bis zu 100 000 Schillingen und Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr, die auch nebeneinander verhängt werden können, geahndet. Derselben Bestrafung unterliegt jede Umgebung der Verordnung, zum Beispiel durch Gewährung von Krediten. Auch der Versuch ist strafbar.
Der Reiseverkehr «ach Oesterreich.
Berlin, 14. März. (DNB.) Zur Behebung von Zweifeln wird amtlich daraus hingewiesen, datz die bisherigen Bestimmungen über den Reiseverkehr nach Oesterreich nicht auher Kraft getreten sind. U. a. gelten die devisenrechtlichen Bestimmungen des Gesetzes über den Reiseverkehr mit Oesterreich Dom 24. August 1936 weiter, wonach Pässe von Reichsangehörigen mit Wohnsitz ober ständigem Aufenthalt im übrigen Reichsgebiet für Reisen nach und durch Oesterreich nur gültig sind, wenn sie den Zusatz- vermerk: „Gültig auch für Reisen nach und durch Oesterreich" enthalten. Reisende, die ohne diesen Zusatzvermerk nach Oesterreich ausreisen wollen, werden zurückgewiesen. Von den Volksgenossen mutz erwartet werden, daß sie sich bei dem Entschluh, nach Oesterreich zu reifen, die gröhte Zurückhaltung auferlegen in dem Bewußtsein, daß die notwendigen, amtlichen Heberleitunas- maßnahmen unter keinen Hmständen gestört werden dürfen. Reisende, Die ohne Erfüllung her gesetzlichen Voraussetzungen die Grenze zu überschreiten versuchen, werden in jedem Falle zurückgewiesen.
Das österreichische Z-Urecht bleibt vorerst weiter bestehe«.
Berlin, 14. März. (DNB.) Das Reich s finan zmin iste- rium gibt folgendes bekannt:
„Das Reichsgesetz vom 13. März 1938 bestimmt, daß das derzeit in Oesterreich geltende Recht bis auf weiteres in Kraft bleibt und daß der Führer und Reichskanzler oder der von ihm ermächtigte Reichsminister da? ReichSrecht in Oesterreich einsühri. Daraus ergibt sich, daß das österreichische Z o 11 r e ch t vorläufig weiterbesteht. ES muß daher die Zollgrenze einstweilen aufrecht erhalten bleiben, das heißt, Zölle und fonftige Abgaben werden an der deutsch-österreichischen Zollgrenze vorläufig wie bisher erhoben. So wie der Freihafen Hamburg Reichsgebiet, aber Zollausschuß ist, so ist Oesterreich vorerst zwar Reichsgebiet, aber Zollausschuß und das Entsprechende gilt in Oesterreich hinsichtlich des bisherigen Reichsgebietes.'
Das La«b
Mit dem Anschluß Oesterreichs ist das Deutsche Reich der größte Staat Europas geworden. Nach dem verlorenen Weltkrieg hatte Deutschland 70 144 Quadratkilometer seines Gebietes abtreten müssen; durch die Rückkehr Oesterreichs in das Reich vergrößert sich das Reichsgebiet um 83 868 Quadratkilometer. Das Deutsche Reich vom 13. März 1938 ist mit insgesamt 554 592 Quadratkilometer Gebietsumfang um 14 724 Quadratkilometer größer als das Deutsche Reich von 1914. Frankreich ist von jetzt an mit 551 000 Quadratkilometern der zweitgrößte, Spanien mit 512 000 Quadratkilometern der drittgrößte Staat Europas. Der Einschluß der 6 786 000 Oesterreicher bringt die Bcvölkerungs- zahl Deutschlands auf 73.86 Millionen. Deutschland war, abgesehen von der Sowjetunion, auch bisher schon der volkreichste Staat Europas. Der Abstand gegenüber den anderen europäischen Großmächten hat sich aber durch die Angliederung Oesterrreichs beträchtlich erweitert: In Deutschland wohnen nunmehr rund 32 Millionen Menschen mehr als in Frankreich, 31 Millionen mehr als in Italien und 27 Millionen mehr als in Großbritannien und Nordirland. Oesterreich hatte mit 81 Einwohnern je Quadratkilometer eine er-
Oesterreich.
arlbergs und des tirolischen Lechtales ist die ^Bevölkerung Oesterreichs überwiegend bajuwarischen Stammes. Nichtdeutsche Minderheiten gibt es nur in geringem Umfange: der Sprache nach gibt e? 0.8 Prozent Tschechen, 0.7 Prozent Kroaten, 0.6 Prozent Slowenen und 0.4 Prozent andere Volkszugehörige. Nach den bisherigen Erhebungen leben in Oesterreich über 300 000 Juden. Etwa 200 000 Juden wohnen in Wien. Dem Glaubensbekenntnis nach sind ungefähr 94 Prozent der Bevölkerung römisch-katholisch und drei Prozent evangelisch. Von den 6.76 Millionen Oestcrreichern (1934) waren 3.25 Millionen männlichen und 3.51 Millionen weiblichen Geschlechts. Die Altersgliederung ist die gleiche wie im übrigen Deutschland. Die natürliche Bcvölkerungszunahme in Oesterreich betrug 1936 minus 0.1 auf 1000 Einwohner, im früheren Deutschen Reich dagegen 7.2. Die Verteilung auf Stadl und Land ist sehr verschieden von der im übrigen Deutschland. 4.08 Millionen Oesterreicher wohnten 1934 in Orten unter 10 000 Einwohnern (das sind 60 Prozent der Gesamtbevölkerung gegen 50 Prozent im Übrigen Deutschland), 0.53 Millionen (8 gegen 19 Prozent) in Orten von 10 000 bis unter 100 000
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Das Deutsche Reib heblich geringere Bevölkerungsdichte als das kleindeutsehe Reich mit 142 Einwohnern je Quadratkilometer. Durch die Mckkehr Oesterreichs ins Reich sinkt die Bevölkerungsdichte in dem neuen Deutschen Reich auf 133 Einwohner je Quadratkilometer.
Das Deutsche Reich hat eine Reihe neuer Nachbarn bekommen. Es grenzt jetzt im Südosten an Ungarn, im Süden an Jugoslawien und Italien und im Südwesten an Liechtenstein. Die Reichsgrenze mit Ungarn — in großen Linien gemessen — hat eine Länge von ungefähr 200 Kilometern, die mit Jugoslawien von ebenfalls etwa 200 Kilometern, die mit Italien von 300 Kilometern und die mit Liechtenstein von 25 Kilometern. Die Grenze mit der Tschechoslowakei hat sich um 320 Kilometer verlängert, die mit der Schweiz um etwa 125 Kilometer. Das bisherige Süddeutschland ist geographisch mehr in die Mitte des Reichs gerückt worden. Die Entfernung von München zur Lande^grenze betrug bis gestern in östlicher Richtung 95 Kilometer, sie beträgt nunmehr etwa 410 Kilometer, in südlicher Richtung ist die Grenzentfernung Münchens von 62 auf 126 Kilometer Luftlinie bis zum Brenner gewachsen.
Mit Ausnahme der alemannischen Bevölkerung Vor-
vom 13. März 193 8.
Einwohnern, und 2.14 Millionen (32 gegen 31 Prozent) in Städten über 100 000 Einwohnern. Der Hauptteil der Bevölkerung wohnt also aüf dem Lande und in kleinen Ortschaften; die mittleren Städte sind verhältnismäßig schwach besetzt; ein Drittel der Bevölkerung wohnt in den drei Großstädten: in Wien mit 1.87 Millionen Einwohnern, in Graz mit 153 000 Einwohnern, und in^Linz mit 109 000 Einwohnern. Die nächst größeren Städte sind: Innsbruck (56 000 Einwohner), Salzburg (38 000), Wiener Neustadt (37 000), Sankt Pölten (32 000), Klagenfurt (27 000) und Baden (22 000).
Das Land Oesterreich war — abgesehen von der bundes- unmittetbaren Stadt Wien — bisher in acht sogenannte „Bundesländer' aufgeteilt: Niederösterreich mit der Hauptstadt Wien, Oberösterreich mit der Landeshauptstadt Linz, Salzburg (Salzburg), Steiermark (Graz), Kärnten (Klagenfurt), Tirol (Innsbruck), Vorarlberg (Bregenz) und das Burgenland (Eisenstadt). Das größte „Bundesland' war Niederösterreich mit 19 300 Quadratkilometern Gebietsumfang, das kleinste, Vorarlberg, mit 2600 Quadratkilometern. In bet Landschaft Oesterreichs nehmen die Alpen den größten Raum ein. Ober- und Niederösterreich sind
Die Denus von Miko.
Von Dolf Sternberger.
Tie Macht, die das Genre in den Gedanken und Gefühlen dieser Zeit (des späteren 19. Jahrhunderts) übte, kann kaum überschätzt werden: das Genre nicht im Sinne eines besonderen Kunstfaches oder Sachgebiets, sondern als Form der Anschauung, der menschlichen Verhältnisse, des Lebens selber. Diese Genrebilder sind Momentbilder der Schönheit, der kindlichen Unschuld, Szenen des Lasters, der Ueppigkeit und Wollust, der kalten Grausamkeit, des schmelzenden Mitleids und der reinen Güte. „Lebende Bilder" also — das sind nicht Allegorien, wohl aber menschliche Modelle, welche Allegorien spielen. Oder auch Allegorien, welche in menschliche Figuren und Szenen eingelassen, eingesperrt sind. Ehedem wohnte den alten, etwa barocken Allegorien der Schönheit, des Lasters und der Tugend eine Dauer inne, die gleichsam quer und streng durch alle Zeit ging und von menschlichem Wandel und Vorgang ganz unabhängig blieb, und nur vermöge solcher Dauer waren die Figuren überhaupt allegorisch. Diese Dauer ist in den „lebenden Bildern" verloren; sie konnte von diesen irrenden, scheinhaft lebendigen Schemen nicht wiedergewonnen werden. Um so mehr strebten sie dem Augenblicke zu, dem flüchtigen, transitorischen Augenblick, um die verlorene strenge Geltung durch den lebhaftesten Appell an den Betrachter zu ersetzen. Mitten in der Bewegung angehalten, flehen diese Figuren und Szenen geradezu, daß der Betrachter sie für sich ergänze.
Hier ist denn auch kein Wohlgefallen mehr interesselos. Beim Genre ist vielmehr das Interesse des Beschauers, des Lesers, des denkenden, gerührten, empörten, begierigen Dritten überall mit im Spiele. Ebenso wie die erstarrte Szene, das lebende Bild, der Ergänzung bedürftig ist, ebensosehr ist dieser interessierte Betrachter begierig, zu ergänzen, und er drängt sich, sein Gefühl zu betätigen, um mit den herausgeforderten Lüsten oder Tränen die Lücken auszufüllen und die Risse zu schließen, die das Stückwerk des Bildes vorweist.
Alles Menschliche ist zu solchen Szenen zerfallen. Die Welt der menschlichen Beziehungen im späten bürgerlichen 19. Jahrhundert ist wie ein Getümmel von Genreszenen. Güte und Bosheit, Schönheit und innere? Leiden, Unschuld und Grausamkeit werden im Unmaß auf allen Gassen angetroffen, beweint, deseufzt und verflucht. Niemand vermochte etwa „Mutterliebe" zu denken, ohne im Geiste die Mutter vor sich zu sehen, die soeben im Begriffe steht, ihr Kind vor irgendeinem rohen Zugriff zu schützen, ober ine soeben burch harte Fäuste von ber Wiege ihres Kindes hinweggeriflen wird, indem sie noch einen letzten schmerzerfüllten Blick dorthin zurücksendet. Idee wie Erfahrung fügen sich solcher Sucht, schlüpfen ein ins Element des Genres.
So groß ist die gewohnte Begierde, die Trümmer menschlicher Ordnung durch das Gefühl und im Gefühl zu ergänzen und zusammenzufügen, den ausgemalten Augenblick nach vor
wärts und rückwärts zum vollständigen szenischen Vorgang aufzufüllen, daß sie geschäftig sich auch dessen bemächtigt, was von selber Dauer haben würde und in sich selber beständig wäre. Das zerschlagene Götterbild ber Venus von Milo, im zweiten Jahrzehnt bes Jahrhunberls aufgefunben unb mit stetig wachsendem, immer allgemeinerem, immer zubring- licherem Interesse umgeben, macht hiervon feine Ausnahme. Wäre irgenb jemanb willens und imftanbe gewesen, nachzuweisen, baß bies Stanbbilb nichts andres als ein unbewegtes, untätiges, nichts erwartendes unb nichts fürchtendes, ganz unb gar statuarisches Wesen barstelle, ein Standbild eben unb sonst nichts — wie von einem kalten Strahle der Ernüchterung hätte das Interesse verstummen müssen. So aber blieb das Trümmerhaste ber Figur ein ewiger Anreiz für bie Begierbe, zu ergänzen. Daß man verschieben ergänzen konnte, baß eine onbre Vorstellung von ber Szene ober Situation, in welcher bie Gestalt sich befinbe, auch eine andre Möglichkeit nach sich zog, die fehlenden Arme anzustücken: dies eben machte das vielerörterte „Rätsel der Venus von Milo" aus. Es hat die Leidenschaften so sehr erhitzt, daß man dessen — fast mit Bestürzung — sogar in den systematisch zu gestutzten Darlegungen der von Berufs wegen mit der Sache befaßten Archäologen und Anatomen gewahr wird.
Es sind während des Jahrhunderts viele solche szenischen Deutungen der Venus von Milo aufgebracht, jeweils unter vielem bittren Streite wieder verworfen und durch neue ersetzt worden. Ob bie Venus gerade daran sei, sich im Schilde des Ares zu spiegeln, ob sie im Begriffe stehe, ins Bad zu steigen, ober umgekehrt „soeben" dem Bade entstiegen sei, ob die Figur gar nur der Rest einer Gruppe und vom Künstler in dem Augenblicke „festgehalten" sei, da sie einen Angriff des Mars auf ihre Keuschheit abgewehrt habe; was es ferner mit dem merkwürdigen Tuche ober Gewanbstück auf sich habe, das um ihre Hüften liegt, ob dies nämlich im Fallen begriffen oder befestigt unb für tote lange befestigt sei — bies finb einige von ben Theorien unb Fragen, welche bie Geister in Anspruch nahmen.
Ihnen allen ist jenes „Soeben" eigentümlich — ein Wort, das man geradezu als das Motto des szenischen Genres nehmen bart Ihnen allen ist auch bie Begierbe bes Ergänzens gemeinsam, welche doch der trümmerhaften Gestalt bie Dauer nicht zurückzugeben vermag, bie bas leibhaftige Stanbbilb, ob auch als Torso, einst besaß. Diese Begierbe bringt bie Göttin in bie fonberbarften, selbst peinlichsten „Situationen", sie macht aus ihr eine babenbe, eine sich jpiegelnbe, eine keusch abwehrenbe Schönheit, in jebem Falle „eine Schönheit". Denn genau bies ist ber Name solchen lebenben Bilbes: wieberum eine Allegorie, bie in eine einzelne, als Stück unter Stücken vorkommende Person eingefleibet ist. Sie stellt weder bie Schönheit schlechthin noch eine Schöne bar. Jenes wäre wirklich allegorisch #i genauen alten Sinne, dieses nur menschlich, unb baher nur ein untergeordneter Gegenstand in einer Kunst, die aus höheren Werten zusammengesetzt ist. Aber „eine Schönheit" — das ist die scheinlebendig gewordne Allegorie, die ihre Tauer und strenge
Geltung hingegeben hat für das Linsengericht solchen Lebens. Diese aber hat es nötig, ergänzt und in Szene gesetzt zu werden, unb biete braucht das neugierige Interesse der Beschauer, welche ihr solchen Hilfsdienst allein leisten können. Für bie Interpreten war es ein Vorzug, daß bie ausgegrabene Göttin keine Arme hatte; wer weiß, ob sie im anbern Falle so interessant unb populär geworben wäre.
Die Kunst im ganzen nun ift in jener Epoche bes späteren neunzehnten Jahrhunderts nichts andres als das Zeughaus, worin alle vorkommenden menschlichen Kostüme für allegorische Figuren aufbewahrt werden. In bie Kunst ist wirklich zu dieser Zeit — wie so oft geschrieben und gesagt wurde — die Schönheit wieder eingezogen, diesmal aber nicht als ihr forderndes Gesetz, sondern als vorkommendes Stück in ihrem Figurenvorrat. Da sie vorkommt, ist sie eine Art von lebendigem Wesen (ein Modell), zugleich aber auch ein isoliertes, ohnmächtig gestikulierendes und vergeblich um sich blickende-, verlorenes Stückgut, dem sich niemand nähert außer den Begehrlichen, die ein deutliches Interesse an solcher Schönheit nehmen.
Aus einem Buch des SerfafferS. dar in diesen Tagen im Verlag H. <3 o b e 11 $, Hamburg, erscheint und den Titel führt: „Panorama oder Ansichten vom IS. Jahrhundert."
Kandrverksgut der Vergangenheit.
Zu einer Ausstellung in ber Mannheimer Sun ft balle.
Die Entdeckung scheinbar neuer Bezirke ber Kunstgeschichte ober bet Kulturgeschichte beruht niemals auf einem Zufall. Ein unschwer verständliches Gesetz läßt bas Auge bes Zeitgenossen nach ben Erzeugnissen ber Vergangenheit Ausschau halten, in denen er seine Meinungen bestätigt findet. Ornamentluftige Epochen bringen Liebe unb Verstänbnis für bas Schnörkelwerk unb ben Ohrmuschelstil auf, baS Louis seize unb ber Klassizismus haben nichts mit größerem Abscheu beurteilt als bas Rokoko unb seine Phantasie. Auch wir sind in ben letzten Jahrzehnten in eine ähnliche Sage geraten. Mit ber neuen Sachlichkeit fiel ber erborgte Zierat historisierender Stilarten ber Mißachtung anheim, unb man besann sich in Enthaltsamkeit auf bie Form als bas Wesentliche, unb sie ward lebendig, soweit bies in ben Kräften bet schöpferischen Künstler lag. Schon bamals ist bei Sammlern bie Neigung auf» getaucht, kunstgewerbliche Objekte an sich zu bringen, benen ein nüchternes Bekenntnis zu Hreigenschaften ihren Wert verleiht. Eine Tenbenz, bie in verwanbter Weise auf dem Gebiet ber Malerei abstrakte Bildungen hervotbrachte, begann Eigenschaften wie bie Proportion bes Gefäßes, bie stereometrische Absolutheit unb bie gespannte Haut ber Flächen zu schätzen. Diese Qualitäten waren jenen kunstgewerblichen Gegenstänben, bie eine aristokratische Fürstenkultur für sich hatte anfertigen lassen, nur im Verein mit einer ornamentalen Berebsarnkeit zu eigen. Das Organische, Zweck- vaste vei^chwand unter bet höfischen Floskel; es war bagegen niemals an ben Gegenständen zerredet worden, bie für ben Gebrauch einfacherer sozialer Schichten, also bes Bürgers unb des Handwerkers, bestimmt waren ober bie als reine Zweckgegenstände von je verstanden worden finb. Diesem Gerät also, bem Gerät eines
schlichten Alltages ober bem Gerät eines objektiven Maßes (Eichgefäße, Kornmaße) roanbte sich roieber bie Sympathie zu, auch weil man in ihm ein didaktisches Element als grundsätzlich vorhanden erblickte. Neuerdings fügen sich zu solchen Ueberlegungen noch bie Begriffe ber Volksgemeinschaft ober bie Begriffe vom kulturellen Gesicht bes Volksbesitzes, unb auf Gtunb biefer Regungen ist ber Bestand bet Mannheimer Ausstellung zusammengebracht worben.
Die Ausstellung ift, wie es sich fast von selbst ergckb, nach Wetk- ftoffen aufgeteilt. Als solche finb anzutreffen: Bronze, Messing, Kupfer, Silber, Zinn, Mas, Porzellan, Steinzeug, Töpferware (Fayence) unb einige wenige Beispiele von Serpentin. So seht nun auch in ben einzelnen Werkstoffen ein bestimmendes Gesetz liegt, fühlt man sich veranlaßt, weniger an dieses, als an das Gemeinsame zu denken, das den vereinten Gegenständen die Familienähnlichkeit schenkt. Denn ob es sich um einen Mörser ober um eine Kaffeekanne, um einen Becher ober eine Zuckerdose, eine irdene Kuchenschüssel ober ein Apothekerglas handelt, immer bars man sich an ber Reinheit ber Form unb an bet Blankheit bes Stoffes erfreuen. Diese Eigenschaften sinb es, bie ben Gebrauchsgegenstänben ber Masse ihren Sondercharakter schenken. Während man Kanonen aus Bronze kennt, an benen burch ornamentale Zutaten ber Zweck fast unkenntlich gemacht worden ist, hat ber Handwerker, sobald unb solange er für seinesgleichen unb für beren Bedürfnisse arbeitete, niemals den Trieb empfunden, mehr entstehen zu lassen, als was man ein werkgerechteS Produkt zu nennen pflegt. Es ist keine Frage, daß das Handwerksgut auf ber Mannheimer Ausstellung geeignet ist, eine neue Abteilung unserer Museen für Kunsthand- roert zu begründen und zu füllen, zumal größere Ansammlungen solcher Gegenstände bisher nut in privatem Besitz »orhanven finb; hier wartet also eine Aufgabe der Zeit.
Viele noch wirkende Menschen werben sich erinnern, baß bet gleiche Hausrat, ber jetzt in ber Ausstellung eine Auferstehung feiert, beim Gehen ber großväterlichen Generation bem Althändler überliefert würbe. Ties Geschehen soll gewiß nicht gepriesen werben; teils bleibt es ein Zeugnis für mangelndes Traditionsgefühl, teils war es begründet durch das Aufkommen billigerer unb praktischerer Werkstoffe. Die Arbeit, Topfe unb Kannen aus Messing und Kupfer instand zu halten, wird man nicht mehr haben leisten wollen, da sie überflüssige Zeit in Anspruch nahm. Diese Wandlungen, denen niemand sich entziehen konnte, führten häufig ein Abirren von bem sicheren Handwerksgeschmack mit sich; nach dieser Richtung lehrt bie Mannheimer Ausstellung das Bleibende. Man möchte eS so formulieren, baß bet Mensch über bie Trivialität unb bie Gefährlichkeit ber Phrase zur Einsicht kommen kann, namentlich über eine Phraseologie, bie einen Zu stand ber Hnecht- heit, scharf gesagt, ber Verlogenheit hervortust, wenn sie aus ben Dingen spricht, bie uns täglich umgeben. Ernst Benkard.
„Franz unb Isabelle".
Die Uebersetzung des in der vergangenen Woche abgeschlossenen Romans „Franz und Isabelle“ von Charles Silvestre stammt von Hellmut Bockmann. Derselbe Uebersetzer hat auch die in der „Frankfurter Zeitung“ erschienenen Erzählungen „Die Suche nach Gott“ von Ernst Hello und „Die Uhr“ von Marcel Arland übertragen.