Zweimalige Ausgabe

Douuersiag, 1. Dezember 1938

83. Jahrgang Ur. 613

Aberibbiatt Erstes Margenblatt

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Weitere Zwei gstellen an den größeren Orten.

Pole«, dos Koueenlanh.

Auszeichnungen van einer Fahri durch das Land.

MF Kaum liegt Warschau hinter uns, die Vorstadt Praga auf der anderen Weichselseite, da beginnt die Erde mit ein­dringlicher Sprache zu reden, sie weist die Hauptstadt sofort in ihre Grenzen.*) Vollkommen flach ist die Ebene nur selten, meist schwingt sie in weiten Wellen, die sich um wenige Meter heben und senken. Gewiß, es ist Herbst, die Schwermut liegt näher als im Frühjahr, und die Farben sind fahl, die Stimmung des Landes aber könnte zu keiner Zeit anders sein. Unter dem Schnee würde sie sich nur noch beredter ausdrücken. Felder, Wiesen, Wälder, Wasser, Häuser, Tiere und Menschen sind eins, ob über Mittag die Sonne scheint, ob es später regnet. Die ein­stöckigen, kleinen, strohgedeckten, hölzernen Häuschen, bald ver­einzelt, bald geordneter oder loser in der Gemeinschaft des Dorfes, heben sich nicht ab aus dem Gemenge von Acker und Bäumen, die ineinander liegen, ineinander übergehen, keine scharfen Grenzen lassen. Sie heben sich nicht ab, wenn die Dächer grün sind von Moos, und nicht, wenn die Holzwände blau oder weiß getüncht sind. Nicht da scheint des Bauern Gaul zu fahren, wo ein Weg ist, sondern da wird ein Weg, wo eben die Räder Spuren hinterlassen haben. Kühe und Kälber auf der Weide, Gänseherden und Scharen von Truthühnern, ein Füllen, das unbeholfen hinter der Mutterstute hertrabt, der Schäferhund, der den Zug anbellt. Wiesen, wieder Bauernhäuschen, Felder, große Waldflecken, abermals Häuschen, kleine Waldfetzen, eine Windmühle, Holzlager, ein schnarrendes Sägewerk, ein Zieh­brunnen eine erregende Gleichmäßigkeit, eine faszinierende Beharrung. Plötzlich fällt uns ein, was wir vermissen. Es sind die kleinen Städte. Es sind die Kirchtürme. Die Bahn kreuzt ein unreguliertes, sich verästelndes Flüßchen, das auch ein See­gebilde sein könnte, wenn die Landkarte nicht einen Wasserlauf angäbe. Hell sind die Birken. Sie tragen eine unvergleichliche Melancholie in ihren weißen Stämmen und zartverzauberten gelben Blättern; denn sie fordern zur Anteilnahme heraus; doch keiner schenkt sie ihnen. Die fünf Stunden bis Wilna wollen sich verdoppeln und verdreifachen, so eilend der Zug auch die Strecke durchmißt, auf der er nur zweimal hält. Die Städte sind Inseln im Meer der Furchen und Wipfel.

Aecker, Wiesen, Bäume.

Noch einmal rast der Zug ins Weite. Er hat mehr als sieben­hundert Kilometer vor sich, bis er von Wilna aus in Lemberg sein wird. Er wird uns dabei am Ostrand Polens noch nicht einmal über die größte Längenausdehnung des Staates hinweg- trägen. Die Hügel um Wilna fallen ab ins Flache, in dem sich das Auge gewöhnt, zu unterscheiden und zu lesen. Hier ist der Boden sandig, dort schwarz, dort braun oder gelb. Hier steht der Wald locker und jung und unfertig, dort dicht und ver­worren. Noch kleiner sind die Häuschen. Sie sind einfach bis zur Armseligkeit. Dem Bauernjungen, der uns mit unergründ­barem Blick und bewegungslos nachsah, werd-m wir gleich wieder und dann noch ein dutzendmal begegnen, wie er, ein­gemummt, die Kappe über Stirn und Ohren gezogen, barfuß, die Kühe hütet, die nach einem allerletzten Grün suchen. Der Bauer hat jetzt nicht viel auf dem Felde zu bestellen. Es schläft in den Winter und ist sich selbst überlassen. Einmal sitzen am nassen Rain drei Bauernmädchen und haben ein aufgeschlagenes Buch vor sich. Unter Bäumen im Sand ein Friedhof mit niedrigen Kreuzen aus Birkenstämmen, ein anderer Friedhof, in dem die Hälfte der Kreuze zerfallen ist und vom Zaun nur noch Reste im Laub vermodern. Mannshohes Gestrüpp bis zum Rand der Welt, gefährliche Wasser, lange und schmale Felder, Kiefern in drohend schwarzen Gruppen, entblätterte Stämme. Ueber allem Nebel und Regen. Die Zeit regiert hier anders, hier kann man nicht nach Tagen rechnen, kaum nach Wochen Nur Sommer und Winter, Frühling und Herbst geben den Ablauf an. Nach zwanzig Kilometer und mehr kommt die nächste Station, deren sauberer Bahnhof den Reisenden nicht davon überzeugen will, daß der Zug nicht wie ein Fremdes über diese Erde fährt. Trigonometrische Vermessungstürme oder was es sonst sein möge, täuschen Kirchen vor und sind in der Nähe doch nur gespenstische hölzerne Pyramidengerippe. Die Loko­

motive pfeift in unregelmäßigen Abständen. Tut sie es wegen der nur durch Warnkreuze gesicherten Uebergänge, dann ist es ein selbstgefälliges Spiel; denn niemand will hinüber, wenn die letzte Haltestelle außer Sicht ist. Nur neben ihr hatten vor den Bahnschranken Bauernwagen geduldig ausgeharrt, zwischen denen kein Auto eifersüchtig um eine Sekunde Vorsprung kämpfte. Bis zur nächsten Stadt verkünden des Menschen Arbeit am lebhaftesten große Heuhaufen, die auf vier Pfählen wie hochgefüllte Körbe draußen stehen. Die Memel, die hier der Njemen ist, liegt schweigsam unter uns und einige Stunden später der Pripet. Inzwischen wird es dunkel. Ein Feuerwerk von Funken aus der Lokomotive stiebt als Schwarm rasender Leuchtkäfer am Fenster vorbei. Nach Süden zu lösen sich die Stationen rascher ab, doch nur wenige Lichter umreißen die Anlage der Orte.

Wie sich der Uebergang vom Osten in den Südosten voll­zieht, hat uns die Nacht verborgen. Das südliche Land enthüllt uns die Fahrt von Lemberg nach Krakau. Hier sind Wald und Wiese, Feld, Wege, Wasser und Siedlungen wieder mehr in der Weise einander zugeordnet, wie wir. es gewohnt sind. Zahl­reicher sind auch die Häuser aus Stein, zahlreicher größere Ge­bäude, und ziemlich regelmäßig hat das Dorf seine Kirche. Hier greift ein Dorf fast schon in das nächste über, und die Felder sind klein und vielfach zerteilt. Wer schließlich von Berlin her über die Grenze fährt, erblickt Fremdartiges erst, wenn er den Ostrand der Wojewodschaft Posen erreicht.

Menschenfülle im Bauernland.

Es ist bekannt und spricht sich leicht ans, daß Polen ein Agrarstaat ist. Der Inhalt dieser Tatsache, die Argrarstruktur im einzelnen, die besonderen Schwierigkeiten und Notstände, die Möglichkeiten einer Hilfe gewinnen an Ort und Stelle ganz neue Seiten. In den 636 Städten Polens wohnten nach der Volkszählung von 1931*), die Grundlage ist für die meisten statistischen Angaben, nur 27 Prozent der Bevölkerung. Nicht alle anderen sind Bauern, auch die Landarbeiter und die ländlichen Handwerker gehören zu dem Sektor der dreiund­siebzig Prozent. Bei der Betrachtung der Agrarfrage können sie nicht getrennt gezählt werden, denn sie sind auf Gedeih und Verderb mit dem Schicksal des Bauern verknüpft. Der Blick vom Eisenbahnfenstet hinaus kann zu dem Schluß verleiten, die Besiedlung sei in ganz entscheidenden Teilen dünn, doch trügt dieser Schein. Freilich gibt es den Großgrundbesitzers gibt Sumpfgegenden mit nur wenigen Menschen; auch täuscht die Kleinheit der Häuser über die Zahl der Bewohner eines Dorfes, die eng aufeinander leben; vielleicht wohnen da zwölfhundert, wo man zweihundert annimmt. Das Grundsätz­liche ist darin zu sehen, daß eine Bevölkerungsdichte vow 89 Seelen im Landesdurchschnitt auf dem Quadratkilometer 1931 waren es noch 83 für einen Agrarstaat ein Zrst"l bedeutet. Der Durchschnitt muß noch aufgegliedert toefben. In den östlichen Wojewodschaften stellt sich die Dichte auf nur 45, und eine abermalige Unterteilung erbringt für Polesien sogar nur 31 aber Polesien umschließt die Pripetsümpse. Man hat zu errechnen versucht, was die Trockenlegung der Sümpfe kosten würde, und hat geschätzt, daß sich bann etwa eine halbe Million dort ansiedeln könnte. Die Kosten sind sehr hoch. Daß das Industrieland der gebietsmäßig ganz kleinen Wojewodschaft Schlesien 307 Menschen auf einem Quadrat­kilometer beherbergt (errechnet ohne das Teschenet Gebiet, das dieser Wojewodschaft zugeteilt worden ist), ändert am Gesamtbild nichts. Ausschlaggebend sind die Zahlen einer Be­völkerungsdichte von 132 in der Wojewodschaft Krakau, von 110 in der Wojewodschaft Lemberg, von 97 für Tarnopol

(Fortsetzung auf Seite 4.)

») Die meisten Zahlenangaben in diesem und In folgenden Ariikeln sind entnommen dem amtlichenPetit Annuaire Statistique de la Pologne 1938", Warschau, und einer kleinen, aufschlußreichen Schrift der Instituts für osteuropäische Wirtschaft am Staatswissenschaftlichen In- stitut der Universität Königsberg,Polen in Zahlen", in der außer dem zuerst erwähnten offiziellen statistischen Jahrbuch auch zahlreiche andere Quellen verarbeitet sind.

Staatspräsident Dr. Hacha.

Wahl und Vereidigung.

(Drahtmeldung unseres Korrespondenten.)

srp Prag, 30. November. Tie im Abgeordnetenhaus ver­sammelte tschecho-slowakische Nationalversammlung hat heute vor­mittag mit 272 von 312 abgegebenen Stimmen der Abgeordneten und Senatoren den bisherigen Präsidenten des Obersten Ver­waltungsgerichts, Dr. Emil Hacha, zum Präsidenten der Repu­blik gewählt. Ein Gegenkandidat war nicht ausgestellt worden. Eine Stimme war ungültig, 39 Stimmzettel, die wohl von den Kommunisten stammten, waren unbeschrieben. Die deutschen nationalsozialistischen Mitglieder der Nationalversammlung hatten sich, wie angekündigt, zur Wahl nicht eingefunden. (Sie wollten damit nicht gegen den neuen Staatspräsidenten demonstrieren, sondern nur bekunden, daß sie ihr parlamentarisches Verhalten von der Einstellung der neuen Regierung abhängig machen würden.)

Zu der Wahlsitzung, die von dem Präsidenten des Abgeord­netenhauses geleitet wurde, war auch die gesamte R e g i-e r u n g erschienen, an ihrer Spitze Ministerpräsident General Syrovy, neben dem der slowakische Ministerpräsident Dr. Tiso und der karpatho-ukrainische Minister Revah (in Vertretung des erkrankten karpatho-ukrainischen Ministerpräsidenten Woloschin) Platz nahmen. Auf den Galerien sah man vollzählig das Diplomatische Korps und die führenden Männer des öffentlichen Lebens. Der Wahlakt, bei dem die Abgeordneten und Senatoren namentlich aufgerufen wurden, dauerte etwa eine Stunde. Als genau um Mittag das Wahlergebnis verkündet wurde, spielte draußen eine Militärmusikkapelle die Nationalhymne. Auf dem Abgeordneten­haus wurde die Staatsflagge aufgezogen und vom Laurenziberg dröhnten einundzwanzig Kanonenschüsse herüber.

Nach einer halbstündigen Unterbrechung wurde die National­versammlung von neuem eröffnet. Der Ministerpräsident, der in­zwischen an der Wohnung Dr. Hachas vorgefahren war, geleitete das neue Staatsoberhaupt in den Sitzungssaal. Dort leistete Dr. Emil Hacha den vorgeschriebenen Eid auf die Verfassung:Ich gelobe auf Ehre und Gewissen, daß ich mir das Wohl der Re­publik und der Bevölkerung angelegen sein lassen und die Ver­fassung und anderen Gesetze beachten werde." Kammerpräsident M a l y p e t r hielt eine kurze Ansprache, in der er auf die schweren Ausgaben des neuen Staatspräsidenten hinwies und stark die Not­wendigkeit betonte, das Volk auf einen neuen Weg zu führen. In demselben Augenblick wurde auf dem Gebäude des Abgeordneten­hauses die Präsidentenstandarte gehißt. Der Staatspräsident wurde von den Präsidenten des Abgeordnetenhauses und des Senates, dem Ministerpräsidenten und den Vertretern der slowakischen ynd karpatho-ukrainischen Regierung über die Freitreppe auf den Smetana-Platz geleitet, wo er unter den Klängen der National­hymne zum erstenmal die Front einer Ehrenkompanie abfchritt. Danach fuhr er mit großer Begleitung über die Karlsbrücke auf den Hradschin. Dort wurde er im ersten Burghof, ehe er sich in seine Amtsräume begab, von der Burgwache begrüßt.

Tie Regierung des Generals Syrovy wird noch heute ihren Rücktritt erklären. Die erste Amtshandlung des neuen Staats­präsidenten wird die Berufung einer neuen Regierung sein.

Der Mille der Karpathen-Ukrainer.

Prag, 30. November. (DNB.) Der karpathen-ukrainische Innen­minister, Dr. B a t s ch i n s k h, erklärte in einer Besprechung mit den Parlamentsberichterstattern, im Innern der Karpathen-Ukraine herrsche Ordnung; lediglich durch Grenzüberfälle von Terroristen sei Unruhe gestiftet worden. Die gesamte Bevölkerung der Kar­pathen-Ukraine wolle im Rahmen der Tschecho-Slowakischen Repu­blik leben.

Die Streikparole nur teilweise befolgt

Kaum verändertes Straßenbild in Paris. Der Eisenbahnverkehr aufrechterhalte«.

(Drahtmeldung unseres Korrespondenten.)

Sieg Paris, 30. November. Der von der Gewerkschaftsleitung angeordnete Generalstreik hat um Mitternacht begonnen. Der Streikbefehl für die Eisenbahnergewerkschaft ist jedoch erst heute morgen um 4 Uhr in Kraft getreten. Schon jetzt kann man sagen, daß die Anordnungen der Gewerkschaften nur teilweise befolgt worden sind. In den meisten öffentlichen Dienstzweigen des Landes und in den sonstigen Betrieben, die von der Obrig­keit requiriert worden sind, wird gearbeitet. Insbesondere spielt sich der Eisenbahnverkehr fast normal ab. Der Be­schluß des Eisenbahnerverbandes, dem Requirierungsbefehl der Behörden passiven Widerstand in den Bahnhöfen und Werkstätten entgegenzusetzen, ist saft nirgends befolgt worden. Auch in der reinen Privatindustrie ist nur der kleinere, Teil der Belegschaft in den Ausstand getreten. Wenn die Lage sich'im'Laufe des Nachmittags nicht verschärft, ist der Erfolg der Regierung und die Niederlage der Gewerkschaften gesichert.

Das Stadtbild von Paris ist durch den Generalstreik nur un­wesentlich beeinflußt. Polizei und Mvbilgarden sind in der Form verstärkt, daß jeder Polizeiposten von einem Mobilgardisten be­gleitet ist. Der BereitschaftSdienst zeigt sich in den massenhaft parkenden Lastwagen der Sicherheitskräfte, die, soweit sie nicht in den Polizeirevieren untergebracht werden konnten, in den öffent­lichen Parks eine Art von Lager bezogen haben. Die Truppe ist in sichtbarer Weise nirgends eingesetzt. Soweit sie die Gebäude und Anlagen der nationalen Sicherheit bewacht, was in verstärktem Maße der Fall ist, hält sie sich im Innern. Die Bevölkerung geht in gewohnter Weise ihrer Tätigkeit nach und hat alle öffent­lichen Verkehrsmittel fast einschränkungslos zur Ver­fügung. Die Autobusse verkehren wie immer, ebenso die Unter­grundbahn und die Autodroschken. Die Versorgung mit Gas, Elektrizität und Wasser war von vornherein nicht in Frage gestellt. Die Müllabfuhr wies heute morgen nur geringfügige Ver­spätungen auf.

Die Zeitungen sind dagegen nur zum Teil er schienen. DieHumanite* und derPopulaire", also die Blätter der eigent­

lichen Streikanhänger, sind ausgeblieben. Die übrige Presse hat sich damit begnügen müssen, zwei oder vier Seiten behelfsmäßig herauszubrinqen. Nur die royalistifcheAction Franqaise" ist in gewohntem Umfange erschienen. Der Telegraphen- und Fernsprech­verkehr ist aufrecht erhalten worden. Die Postämter versehen in gewohnter Weise ihren Dienst. Dagegen weist der Ausbringerdienst der Postbehörden einige Lücken auf. Alle Geschäfte, ob groß ober klein, sind offen, ebenso die öffentlichen Vergnügungsstätten. Mit einem Wort, der französischen Hauptstadt ist der Generalstreik kaum anzusehen, wie auch die öffentliche Stimmung nur in ge­ringem Umfange von ihm geprägt ist. Die Bevölkerung, so scheint es, mißbilligt die Haltung der Gewerkschaften in weitem Maße. Sie ist sich offenbar über den starken Anteil der Kommunisten an dem Streikbeschluß im klaren, und so sehr sie bereit ist, sich über die Härten der Notverordnungen zu beklagen, so wenig erwärmt sie sich an einer rein politischen Kundgebung, die, wie immer deut­licher wird, darauf abzielk, die Autorität der Regierung zu schwächen und gegen ihre Außenpolitik Sturm zu laufen. Tatsächlich ist es so, daß man in den letzten Wochen noch nie so wenig über die Notverordnungen gesprochen hat wie heute am Tage des General­streiks, der sich gegen sie richten soll.

Auch in der P r i v a i i n d u st r i e, selbst in Nordfrankreich, ist die Streikparole nur bis zu schätzungsweise 30 Prozent der Belegschaften befolgt worden. In den requirierten Gruben und Stahlwerken sind schätzungsweise 20 Prozent der Arbeiter ferm geblieben. Stärker betroffen sind die verschiedenen Werke der chemischen Industrie. Bei Kuhlmann blieben 40 Prozent der Belegschaft fort. Bei den Arbeitern herrscht allgemein die Be­fürchtung, daß man ihnen den Bruch des Arbeitsvertrages vor­werfe. Die Schließung der Renault-Werke und Farman-Werke in Groß-Paris, deren färntliche Arbeiter fristlos entlassen worden sind, hat großen Eindruck gemacht. Wissen doch die Arbeiter nur allzu gut, daß zahlreiche Unternehmer sich nichts Besseres wün­schen, als ihre ganze Belegschaft neu einzustellen und dabei die

Hummi.

(EinemamerikanischenBuchenacherzählt.) Von Leopold von Wiese.

Wenn große Epen, die Gegenstände unseres Zeitalters behandeln wollten, ihre Dichter fänden, so müßten sie nicht selten recht alltägliche Titel führen. Eines von ihnen wurde den Namen eines viel genutzten Rohstoffs tragen: Gummi. Vielleicht würde der englische Ausdruck für diese sehr be­gehrte Ware:Rubber" mit seinem schärferen Klange etwas mehr davon ahnen laßen, wie sehr dies Epos von menschlichen Leidenschaften handeln würde. Das Schrifttum der letzten Jahre (auch in deutscher Sprache) enthalt eine Reihe von Veröffentlichungen, die mehr als Staftstik oder geschäftlich« Berichte bieten. Aber es fehlte di« Chronik dieses Abschnitts der Geschichte moderner Menschheit, die ebenso zuverlässig in den tatsächlichen Angaben und vorsichtig in der Beurteilung wie in der Darstellung dramatisch und aufs Wesentliche gerichtet ist. Jetzt liegt das Werk zweier Amerikaner vor, die ihrem umfangreichen Buche den Titel:Rubber; a Story of Glorv and Greed"*) gegeben haben. In diesem Buche wird in 'der Tat sehr packend eineGeschichte von Habgier und Tatenlust" erzählt, von der ich im folgenden einen Ein­druck vermitteln möchte. Ich will kein kritisches Referat geben sondern versuchen, einiges davon auf Deutsch nachzu­erzählen, und mich darauf beschränken, das eine oder andere in einen allgemeineren Rahmen zu stellen und mit den Er­gebnissen anderer Studien (auch eigner früherer Reisestudien) zu vergleichen. Doch soll hier nur von den Arbeiterverhält­nissen in der Rohgummi-Gewinnung erzählt werden; andere Zusammenhänge, wie Spekulationserscheinungen, Hänbler- und Konsumentenorganisationen, wirtschaftspolitische Vor­kommnisse sollen nur so weit erwähnt werden, als sie auf ine Arbeiterverhältnisse eingewirkt haben. Wie dürr und technisch klingt dieses Wort: Arbeiterverhältnisse! Es ist notwendig, daß wir uns daran erinnern, daß stets, wenn es sich um Arbeit und Arbeiter in fremden Erdteilen handelt, die ge­wichtigsten Rassenerscheinungen berührt werden; damit berührt der Begriff tiefe, erschütternde Zusammenhänge des zwischen­menschlichen Lebens. Manches, gerade das Aufregendste, ist heute schon Geschichte. Die Fieberkurve des Lebens lesen wir gegenwärtig mehr an den Veränderungen des Gummi­marktes und an den Gegensätzen der Produzentenverbände ab als an den verhältnismäßig beruhigten Arbeiterverhält- nisien. Die großen Tragödien der Eingeborenen fallen haupt­sächlich in die Jahre 1900 bis 1912, soweit Südamerika, 1890 bis 1908, soweit Afrika, und 1908 bis 1921, soweit Südost- asien in Frage kommen. In Brasilien ist das heutige Bild von dem, das dort vor dreißig Jahren bestand, völlig ver-

*) Rubber, a Story of Glory and Greed, by Howard and Ralph Wolf, New York, 1936, Govici and Triede. 533 Seiten.

schieden bis zum krassen Gegenteil. Aber gerade wie es zu solchen Wandlungen gekommen ist, und wie es eigentlich nur von einer besonderen zeitlichen Konstellation abhängt, ob sich der Abgrund ausbeuterischer Leidenschaften öffnet oder schließt, ist lehrreich genug.

Im brasilianischen Urwald.

DasRubber"-Buch beginnt mit den der Genesis nach­gebildeten Worten:Im Anfang war der Baum. Und Dunkel­heit lag auf der Oberfläche der Wildnis. Und der Mensch, ge­schaffen nach dem Bilde Gottes, bewegte sich verstohlen auf dem Boden des Waldes." - Die Verfasser begleiten an einem längst vergangenen Tage im Geiste einen Indianer am Ama­zonenstrome: Der Mann ist auf der Suche nach Wasser. Sein Blick fällt auf einen Baumstamm. Aus einem zufälligen Ein­schnitt tropft eine weißliche Flüssigkeit. Der Durstige leckt den Tropfen ab. Der Geschmack ist scheußlich bitter. Der Baum war die Hevea brasiliensis, die heute und seit vielen Jahr­zehnten die Hauptquelle der Weltversorgung mit Kautschuk ist. Ein andermal treffen den Wilden Geschosse von der Größe eines Vogeleis. Die Schüsse kommen von dem Baume mit der schlecht schmeckenden Milch. Das Geschoß ist eine braune Kapsel mit Samen, die außen buntgefleckt, weich und elastisch, innen hart ist. Schließlich kommt der Tag, wo er die ge­ronnene Masse, die sich am Fuße des Baumstamms aus den Tropfen gebildet hat, aufhebt: ein Gummi-Apfel. Da er schlecht riecht, wirft er ihn zu Boden und gewahrt, daß er wieder aufspringt. Der Mann fürchtet einen Geist und läuft schnell davon. Ein nächstes Mal hat er weniger Furcht; er nimmt die seltsame Frucht mit zu den Hütten seines Stammes. Dort lernt man mit den elastischen Bällen spielen.

So, wie es die Wolfs hier schildern, mag es sich in der Tat zugetragen haben. Mit der Zeit mögen die Eingeborenen er­kannt haben, daß der Baum nicht bloß pralle Bälle, sondern fast alles, was der Mensch braucht, liefern kann; nur keine Nahrung. Diesen primitiven Indianern gelingt es, das Ab­zapfen der Bäume, das Gerinnen-Lassen, das Formen und Nutzen des Gummis zu handhaben. Die weiße Raffe hat erst mehr als dreihundert Jahre nach ihrer ersten Bekanntschaft mit den Indianern des Amazonas die Eingeborenen-Technik ver- beffert. Jahrhundertelang erschien der seltsame Stoff, den die Eingeborenen vielseitig gebrauchten, den Portugiesen und Spaniern wenig beachtenswert; erst am Schluffe des 18. Jahr­hunderts begann man, ihn regelmäßig einzuführen.

Bald suchten die Portugiesisch-Brasilianer die Ausfuhr nach einem anderen Lande als dem Mutterlande zu sperren. Nur unter Schwierigkeiten wurden 1800 einige Gummiflaschen nach den Vereinigten Staaten transportiert. Besondere poli­tische Umstände führten aber dazu, daß nach Oeffnung der Häfen der Handel in den 20er Jahren lebhafter wurde. Die einschneidendste Veränderung begann mit der Eröffnung der Dampfschiffahrt auf dem Amazonas. Die Indianer wurden zu ©ummifammlern; sie vernachlässigten den Ackerbau. Man I führte Lebensmittel (Bohnen, Mehl, Mals) ein. Immer mehr

folgten dem Forscher und Priester die Händler und Koloni­sten. Aus alten Stationen der Sklavenhändler wuchsen Städte empor, so vor allem an der Mündung, Para. Die Sklaverei hatte bereits seit dem 17. Jahrhundert eine alte Geschichte; auf Nuß-, Kakao- und Tabakplantagen wurden Indianer schon lange (meist von Mischlingen) ausgenutzt und, wenn sich ihre Reihen zu sehr dezimierten, durch eingeführte Neger ersetzt.

Nach dem amerikanischen Bürgerkriege kamen Abenteurer aller Nationen ins Land. Mit Alkohol und billigen Fabrik­waren (so etwa unbrauchbaren Flinten) lockten sie die In­dianer zur Gummiarbeit. Aufs neue begannen Sklavenjagden. Aber erst der Beginn der Kraftwagenverwendung führte zum Jungle Boom", bis schließlich 1912 die Ausfuhr von wildem Gummi ihren höchsten Punkt erreichte. Inzwischen wurden aus wenigen Amazonasdampfern Flotten; die Ufer am Mittelläufe bevölkerten sich mit Siedlungen, Para, aber auch Manaos und tief landeinwärts Jquitos wurden fdfimmernbe, lärmende Großstädte. Auch die letzten Reste der Bodenbestellung schwanden. In den Tagen der Hochkonjunktur aßen Arbeiter in Bolivien importierte Konservensardinen, Salm und Thun­fisch an den Ufern höchst fischreicher Flüsse. Aber auch Obst und süße Kartoffeln wurden eingeführt. Während eine unge­sunde und rohe Luxuszivilisation in den Städten herrschte, kam dem Walde draußen und seinen Bewohnern keinGro­schen" der riesigen Einkünfte zugute.

Die Preise fliegen: In Para, das Mitte des Jahrhunderts einer der billigsten Orte der westlichen Erdhälfte gewesen war, waren die Lebenskosten vier- bis fünfmal so hoch wie in New Dork. Von Manaos derJungle-Boom"=3eit wird erzählt, daß es verhältnismäßig mehr Luxus entfaltete als Paris.Es war einer der Hauptmärkte für die kostbarsten Dinge und eine Stadt, die nach den teuersten Weinen, Seidenwaren und Möbeln verlangte, der größte Einkaufsplatz der Erde für Dia­manten. In jeder Straße Juwelenläden. An den schmutzi­gen Fingern von schlampigen Angestellten glitten Diamant­ringe, die Hunderte von Dollars kosteten. Wer sie nicht besaß, gab sich als eine verarmte oder mißglückte Existenz zu er­kennen." Wie aber sah es bei denen aus, die diesen Uebcr- fluß schufen? Da waren zunächst die weißen, abenteuernden Gummisammler. Von ihnen sagen die Wolfs:Das ganze Melodrama des Gummi-Sammelns in Amazonien ist eine Ge­schichte, die nie erzählt werden kann, in der Hauptsache eine Geschichte von einsamen Menschen und kleinen Gruppen, die in den Gummiwäldern umherzogen. Diese Erzählung setzt sich aus Tausenden von individuellen Tragödien und Schreckens­geschichten zusammen." Solche Leute hatten keinen amtlich be­glaubigten Rechtsanspruch am Lande. Sie schnitten in die Rinde bestimmter Bäume ihr Namenzeichen ein. Oft wurde es von andern mißachtet. Aber es geschah auf Lebensgefahr. Leichter war es, die Äaummilch in den Näpfen zu stehlen. Er­tappte die Diebe der zur Aufsicht bestellte Mann, so antwortete dem Störenfried nicht selten eine Flintenkugel. Manche dieser Sqatters (um den für nordamerikanische Verhältnisse üb­lichen Ausdruck zu gebrauchen) zogen mit Weib und Kind durch

den Dschungel und siedelten an Orten, wo sie für Staat und Kirche unerreichbar waren. Wenige wurden reich; die Händler jedoch gelangten fast alle zu Wohlstand, einige zu Riesenver­mögen. Aber es gab Pioniere, die von Hunger, Fieber, Jn- sektenwolken gequält, bei sintflutartigem Regen durch Sumpf und Unterholz streiften, bis sie dort umkamen.

Fast alle an bet Wildgummi-Produktion beteiligten Per­sonen waren in der Falle des Kreditsystems gefangen. Auch hier zeigt sich derselbe Zusammenhang, der so oft in der Kolonialwirtschaft die Grundlage des Ruins ist. Zweierlei kommt in Frage: die Verschuldung durch Vorschüsse und das Trucksystem. Hier genau so wie am Kongo ober auf Sumatra, ja eigentlich wie überall, wo biefe Entartungsform bei- Er­werbswirtschaft herrscht.

Die Arbeit im Urwalb verrichteten teils Mischlinge aus inbianischem unb portugiesischem Blute, teils waren es Neger, beten starke Körper bem Klima besser gewachsen waten, teils unvermischteUngläubige", also inbianische Eingeborene, bie oft aus anberen Gebieten hierher ver­schleppt würben. Wer von ihnen nicht an Fieber, Unter­ernährung unb Insektengift starb, blieb bauernb in ber Schuld­knechtschaft, belastet im Konto bes Arbeitgebers. Da kamen Einwanberer aus bem von ber Dürre heimgesuchten Ceara, schon enttäuscht burch bie Fahrt auf ben Flußbampfern, wo sie als Viehpassage galten unb oft im Alkohol ben berüchtigten Vorschuß ber Agenten verbrauchten. Angekommen, sahen sie in ber Lichtung am Flusse zwei größere Häuser vor sich: bie Wohnung bes Patrao unb baneben bas Lagerhaus, bas ihnen Mehl, getrockneten Fisch, Zucket, Gewehr, Munition und ihr Arbeitswerkzeug lieferte. Alles, was sie brauchten, bekamen sie von bort, wohin sie auch ihr Probukt abliefern mußten. Die Preise, bie ihnen für ben Kautschuk unb für bie Lebensmittel berechnet würben, verstauben sie nicht. Sie wußten nur, baß sie bis zum äußersten zu arbeiten hatten, wenn sich ihr wach- fenber Buchkrebtt je verminbern sollte. Sie hätten bas meiste, was sie brauchten, selbst ptobuzieten können; aber man ließ ihnen keine Zeit für Fischfang ober Ackerbau. Wo wären bann bie Gewinne ber Lagerhäuser am Verkaufe geblieben? Wer wenig Gummi brachte, bekam wenig Chinin unb anbete Mebi- zin, keinen Baumwollstoff, keinen Alkohol unb keine Konserven. Wer zuviel Abfall ober Klumpen in ben geräucherten Gummi- flaben aufwies, bekam bazu bie Peitsche zu spüren. Durch Fällen ber Bäume zu einem im Augenblick reichlichen Gummi­flusse zu gelangen, wat mit Tobessttafe bebroht; bie meisten Zapfet hielten sich beshalb an bie votgeschriebene Atbettsrunbe.

Wir wollen toieberum, von ben Verfassern des Rubber- Buchs geführt, einen Indianer auf feinem Rundgang begleiten: Jeden Tag begann bie Arbeit um vier Uhr morgens; benn je heißet bie Stunbe, besto langsamer tropfte ber Saum. Vor Morgengrauen rollte sich ber Seringnero (Zapfarbeitet) aus seiner Hängematte, goß eine Tasse Kaffee hinunter, zünbete seine Sturmlaterne an, nahm Axt ober Messer, Flinte unb Zinnschale unb trat in ber Nacht seine lange Runde an. Sie wat fünf bis sechs englische Meilen lang; zweimal mußte ,sie