Freitag. 1. September 1939
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84. Jahrgang gr. 444 Zweimalige Ausgabe
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Weitere Zwei gstellenan den größeren Orten,
Der Stand der Krise.
BK Zum erstenmal in diesen entscheidenden Tagen ist das Wort „G e s amtm o b i l i s ati on" gefallen. Die Polen haben cs ausgesprochen. Das Wort überrascht uns nicht und es erschüttert uns nicht. Den Polen ist cs bisher nicht gelungen, die Reichsregierung durch ihre Herausforderungen zu Handlungen zu veranlassen, die der Führer nicht oder noch nicht für geboten hielt, — wir nehmen an, daß der Schwerpunkt der Entscheidung auch weiterhin an anderer Stelle liegen wird. Freilich, alle Dinge haben ihre Grenzen. Doch vermag das Wort von der polnischen „Gesamtmobilisation" am Gesamtbestand der bisherigen Tatsachen nichts zu ändern. Eine Grenze bedeutet es höchstens insofern, als es Las letzte Wort im polnischen Vokabularium ist. Es läßt sich nicht mehr durch Worte, sondern höchstens durch Taten überbieten, — durch Taten, die einer ganz anderen Kategorie an- gchören würden als alles Bisherige.
Wir sind weit davon entfernt, den Ernst der Stunde verschleiern zu wollen, wenn wir feststellen: Glücklicherweise gilt heute die fatale Parole von 1914 nicht: „Mobilmachung bedeutet den Krieg." Die strategischen Ideen von damals hatten diese Parole erzwungen. Sie waren grundverschieden von den heutigen. So konnte es kommen, daß nachgerade ganz Europa, einschließlich der Neutralen, halb oder ganz mobilisiert ist: kriegs bereit, aber keineswegs kriegslustig oder auf Krieg um jeden Preis abzielend. Was bedeutet es nun, wenn sich Polen als einziger Staat berufen fühlt, das Wort „Generalmobilisation" hinauszuposaunen? Es bedeutet einen Irrtum, nämlich den Irrtum, daß mit einem solchen Wort irgendein Eindruck hervorzubringen wäre, außer allenfalls diesem: Seht, tote die Polen mit dem Feuer spielen, während andere Mächte damit beschäftigt sind, alle Möglichkeiten einer friedlichen Lösung sorgfältig noch einmal zu überprüfen! Denn das ist sicher: Weder Deutschland noch England bekunden in diesen Tagen die Neigung, den Dingen einen katastrophalen Lauf zu lassen, bevor diese neue und letzte Prüfung etwaiger Möglichkeiten vorgenommen wurde.
Wenn heute eine abermalige Antwort des Führers auf die ihm vorliegende letzte Aeußerung der britischen Regierung erfolgt, so ist dies die dritte deutsche Aufzeichnung innerhalb weniger Tage. Es mag Engländer geben, die sich wirklich nichts anderes vorstellen können, als daß es sich nur noch darum handle, in diesen Tagen die Dokumente zu beschaffen, die für ein englisches Weißbuch über die Kriegsschuld nötig wären. Sicher gibt es andere Engländer (wie auch Franzosen), die die derzeitigen Bemühungen überaus ernst nehmen. Wir Deutsche aber wissen, daß die Rüstungen und die Bereitschaft unserer eigenen Nation niemals, auch nicht in diesen Tagen, bedeuten, daß sich mit der Entschlossenheit, die deutschen Lcbensrcchte zu vertreten, nicht zugleich der glühende Wunsch verbände, das Ziel ohne Blutvergießen zu erreichen. Wir wissen, daß gerade dies der Sinn der Politik des Führers noch immer war. Wir sehen das auch heute bestätigt in dem Brief Adolf Hitlers an Daladier und in dem Gedankenaustausch mit Chamberlain. Wir wissen aber zugleich, daß in diesem Augenblick der Wunsch nach Frieden, der den Wunsch nach einem besseren und gerechten Frieden bedeutet und der die Verständigung mit England in sich schließt, außerordentlich schwer vereinbar ist mit der nationalen Forderung, die Deutschland, nachdem der <^tein ins Rollen gekommen ist, an Polen richtet und richten muß. Dieses zweitgenannte deutsche Ziel ist verankert worden (öffentlich sichtbar) in dem Brief an Daladier, das andere gehört zu den Gegenständen der Beratung und des Meinungsaustausches zwischen Berlin und London. Gelingt die Lösung des polnischen Knotens, so winkt Europa eine glücklichere Zukunft. °Die Westmächte haben Danzig zu einer europäischen Frage gemacht — im Briefwechsel mit England macht sie auch Adolf Hitler zu einer europäischen Frage. Aber wie groß ist der Unterschied! Die Westmächte sagten: Wir werden wegen Danzigs kämpfen. Adolf Hitler aber sagt: Die gerechte, das Unrecht von Versailles wiedergutmachende Lösung der polnischen Frage soll uns Europäer zu einer endgültigen friedlichen Zusammenarbeit bringen. Chamberlain scheint aufgehorcht zu haben.
In dieser überaus schweren Krise liegt also ein sehr tiefer Sinn — und eine große Hoffnung. Möge es den Staatsmännern gelingen, den Schatz zu heben! Wahrhaftig, es wäre die Mühe wert, und es wäre reichlich die Opfer wert (die Opfer an „Standpunkt" wie auch an trügerischem Besitz des falsch abgegrcnzten polnischen Staates), die gebracht werden müßten, wenn eine gute Lösung der polnischen Frage zu einer guten Lösung der weit darüber hinausreichenden Probleme führen soll. Das Bewußtsein aber, daß der Führer in diesem Sinne arbeitet, ohne sich durch den polnischen Ucber- mut oder gar diese „Generalmobilisierung" ablenken zu lassen, dieses Bewußtsein gibt der deutschen Nation in diesen erregenden Tagen eine dreifache Stärke.
Wir wissen, daß alles Menschenmögliche geschehen ist, Deutschland stark und unangreifbar zu machen. Wir wissen, daß die strategische Situation Polens so ist, daß weder die geheime noch die offiziell verkündete Generalmobilisation irgend etwas daran ändern kann. Wir wissen, daß die weitgedehnte polnische Grenze uns Möglichkeiten gibt, von denen niemand erwarten kann, daß sie nicht ausgenützt würden. Wir hörten, daß die Polen Veranlassung haben, zugleich auch auf Truppenverschiebungen in ihrem Rücken, wo die Sowjet- regicrung russische Verstärkungen für wünschenswert hielt, zu achten. Wir kennen die Stärke, aber auch die Schwäche der Westmächte. Wir wissen unter anderem, daß sie sehr verfehlte, aber für ihre geheimsten Gefühle bezeichnende Spekulationen aufstellen: hinsichtlich Italiens (das mit verstärkter und betonter Kriegsbereitschaft geantwortet hat, totf das nicht anders zu erwarten war), aber nicht minder in bezug auf den deutsch-russischen Vertrag: in bezug auf seine praktische Tragweite, die man in London gerne bagatellisieren möchte, und auf seine Rückwirkung auf Japan, die (wie unsere Telegramme zeigten) bei genauerem japanischem Zusehen durchaus nicht so ist, wie man in London zunächst annahm. Je mehr jene allgemeinen, über die akute polnische Frage hinausreichenden Aspekte beachtet werden, desto deutlicher wird der englischen Regierung werden, daß der deutsch-russische Vertrag nicht nur für die polnische Krise, sondern gerade auch für die Hoffnung auf die Konsolidierung der internationalen Beziehungen überhaupt große Bedeutung gewinnen könnte.
Aber täuschen wir uns nicht: Der Friede in Europa wie in anderen Weltgegenden könnte auch dann nicht durch eine Notlösung oder durch ein oberflächliches Kompromiß gesichert werden, wenn Adolf Hitler nicht entschlossen wäre, nur eine vollauf befriedigende polnische Lösung hinzunehmen. Nicht „Frieden", sondern nur ein besserer Frieden darf das Ergebnis sein, sonst käme Europa aus seinen i«rßlosen Sorgen nicht heraus. Es war überaus bezeichnend, wenn auch für jeden aufmerksamen Beobachter selbstverständlich, wie Italien ans die verschiedenen Appelle und auf'.gc>(nse Illusionen anderer reagiert hat. Die italienische Presse hat denen, die Vermittlungswünsche aussprachen, rund heraus erklärt: Natürlich bleibt auch Mussolini in einer solchen Situation nicht untätig, natürlich ist sein Wort auch heute noch wahr, daß Italien den Frieden will und daß es nach Meinung des Duce auch heute keine Frage gibt, die nicht auf friedliche Weise gelöst werden könnte, — aber es wird nichts Gutes für Europa geschehen sein, wenn nicht ehrliche Schritte getan (und von denen, die eä angeht, die entsprechenden Opfer gebracht) werden, um endlich aus dem schlechten und ungerechten Frieden einen besseren und gerechten zu machen. In diesem Zusammenhang haben auch die Italiener Ansprüche anzumelden, — auch die Japaner, auch andere. „Danzig" ist nur der Anlaß, nur der Hebel, — „Danzig" rollt nicht nur die polnische Frage, es rollt das Weltproblcm auf. Deshalb der Widerstand derer, die bisher kein anderes Ziel kannten als den „Status quo“ — und allenfalls vage Worte über eine bessere Zukunft. Es ist zu fürchten, daß noch nicht jedermann die ungeheure Bedeutung, aber zugleich die ungeheure Chance erkannt hat, die sich an das beispiellose Ringen knüpft, in dem wir den Führer Deutschlands mit höchstem Einsatz kämpfen sehen.
Zollinspektoren als Spione.
kDrahtmeldungen unseres Korrespondenten.)
Jg Danzig, 31. August. Bei einer Untersuchung der polnischen Schule in dem Dorfe P i e ck e l im Kreise Danziger Werder wurde im Dachgeschoß eingebaut eine polnische Signalstation entdeckt. Das Werderdors Pieckel liegt an dem sogenannten Dreiländereck, das heißt an der Grenze zwischen Danzig, Deutschland und Polen. Ferner wurden in der Schule, die zum Teil auch von polnischen Zollinspektoren bewohnt wurde, weil nicht genügend polnische Schulkinder vorhanden waren, größere Mengen von Munition und Waffen vorgefundcn, darunter 1200 Schuß Jnfanteriemunition und eine größere Anzahl von Pistolen. Zwei der polnischen Zollinspektoren konnten noch rechtzeitig die Flucht ergreifen, zwei andere polnische Zollinspektoren wurden dagegen fcstgenommcn. Die zwei verhafteten Zollinspektoren gestanden bei der<Lernehmung, für Polen Spionagedienste geleistet zu haben.
Ein neuer Zwischenfall bei Steittflietz.
3E, Danzig, 31. August. Bei dem Danziger Grenzprt Stein- fließ ist es gestern abend wieder zu einem Grenzzwischenfall gekommen. Eine polnische Streife versuchte, die Grenze zu überschreiten. Sie wurde daran von einer Danziger Grenzpatrouille gehindert. Die Danziger Streife eröffnete das Feuer auf die Eindringlinge, das von polnischer Seite erwidert wurde. Rach der Schießerei, die etwa fünf Minuten andauerte, ergriffen die Polen die Flucht. Auf Danziger Seite ist niemand verletzt worden.
Uerdnttkelungsühnngen in Italien.
# Rom 31. August. Die Vorsichtsmaßnahmen, welche die italienische Regierung für den Kriegsfall trifft, sind auch heute weiter ausgedehnt worden. Der Verkauf von Kaffee an Einzelverbraucher und die Abgabe von Kaffee in Restaurants, Cafes, Bars und Hotels ist vom 1. September an verboten, um die vorhandenen Bestände für den Bedarf der Wehrmacht, für Krankenhäuser, Sanatorien und so weiter zu sichern. Damit folgt für den
Kaffee ebenso wie vorher schon für Benzin auf eine anfängliche Preiserhöhung die Aufhebung jeden privaten Verbrauches.
Die Verdunkelungsübungen, die auf Anordnung des Kriegsministeriums vorgestern nacht begonnen haben, sind in der vergangenen Nacht voll abgehalten worden. In Rom weisen öffentliche Anschläge auf die amtlichen Verdunkelungsvorschriften hin, die von heute an mit unbestimmter Frist gelten. Der Stadtverkehr ist im gewohnten Umfange aufrechterhalten worden. Der stark angeschwollene Eisenbahnverkehr, der nach der Aufforderung zur liebet» siedlung auf das Land eingesetzt hat und auch durch die militärischen Einberufungen verstärkt ist, wickelte sich ohne Schwierigkeiten ab, auch in den kurzen Zeitspannen, in denen gestern abend die völlige Verdunkelung der Stadt durch Ausschaltung des elektrischen Stroms erprobt wurde. In Turin wurden Verdunkelungsübungen bei einigen größeren Werken überraschend und ohne Vorankündigung vorgenommen. Anschließend wurde auch hier die völlige Verdunkelung der Stadt erprobt. In Mailand sind die Verdunkelungsvorbereitungen nahezu beendet worden.
In Anpassung an Einschränkungen im deutschen Eisenbahnverkehr sind einige Anschlußzüge nach Deutschland, und zwar Tar- viso—Venedig, Tarviso—Udine, Cervignano—Udine, Brenner- Bozen, Bozen—Meran und einige andere Verbindungen aufgehoben worden. Die Durchgangswagen von drei internationalen Zügen Rom—Amsterdam, Rom—Berlin und Rom—Altona werden nur bis Basel geführt.
Henderssn bei Ribbentrop.
Berlin, 31. August. (DRB.) Der Reichsminister be5 Auswärtigen, von Ribbentrop, empfing in der Nacht zum Donnerstag im Auswärtigen Amt den britischen Botschafter in Berlin, Sir Nevile Henderson.
Graf Ciano empfängt den amerikanischen Botschafter.
Rom, 31. August. (Europapreß.) Der Botschafter der Vereinigten Staaten beim Quirinal, Philipps, hatte am Mittwoch eine halbstündige Unterredung mit dem italienischen Außenminister, Grasen Ciano.
Irrtum über Italien
O- Berlin, 31. August
Die Illusionen, die allzu leicht die politische Stimmung der Westmächte von dem festen Grund der politischen Tatsachen abtreiben und möglicherweise auch in verantwortlichen Kreisen ein Wunschbild hervorzaubern könnten, das mit der Wirklichkeit nicht übercinstimmt und deshalb zu gefährlichen Folgerungen und Entscheidungen verführen könnte, — solche Illusionen werden immer wieder von Gerüchten über eine Trübung oder gar eine ernste Störung in den Beziehungen zwischen Deutschland und Italien genährt. Wenn die Leute, hie daran glauben, weil sic allzu gerne daran glauben möchten, zu belehren wären, hätten sie in den letzten Wochen nur einen flüchtigen Blick in die italienischen Zeitungen zu werfen brauchen. Sie hätten dann gefunden, daß Deutschland und Italien auch in . der gegenwärtigen Krise an einem Strange ziehen. Das ist zwar für jeden, der sich nichts vormachen will, ganz selbstverständlich; aber es gibt anscheinend bei den West- mächten immer noch Zweifler, denen das Selbstverständliche zu einfach ist, als daß sie sich darauf verlassen möchten.
Solchen Zweiflern ist die aufmerksame Lektüre eines kurzen Artikels zu empfehlen, der jetzt in der führenden Zeitung der Fiscistifchen Partei, dem von Mussolini selbst gegründeten und lange Jahre hindurch geleiteten Mailänder „Popolo d'Jtalia" erschienen ist. Aus Rom ist hier bereits darüber berichtet worden. Der Artikel, der nicht namentlich gezeichnet, aber nach der bildkräftigen Prägung seines Stiles den Namen des Verfassers leicht vermuten läßt, ist eine Antwort für alle Stimmen, die heute den Duce zur Rettung des Friedens anrufen. Die Antwort ist völlig eindeutig und zeigt den verantwortlichen Staatsmann Italiens in einer Haltung, die vollkommen mit der Haltung Adolf Hitlers übercinstimmt. Keiner der beiden Staatsmänner will seine Mitarbeit an der Grundlegung eines echten und gerechten Friedens verweigern. Aber genau so, wie Adolf Hitler in seiner Antwort auf den
Brief des französischen Ministerpräsidenten Daladier nicht für irgendeinen faulen Frieden, sondern für die Voraussetzungen eines dauerhaften Friedens plädiert hat, genau so wird vom „Popolo d'Jtalia" bezeugt, daß auch der Duce daS Nebel, an der Wurzel kurieren und nicht bloß „ein schmerzstillendes Mittel" verabreichen will.
Das fascistische Blatt findet dafür einen, wie cs meint, banalen, aber deshalb nicht minder eindrucksvollen Vergleich: Europa habe rasende Zahnschmerzen. Da helfe kein Mittel mehr, das den Schmerz vorübergehend cinschläfere. Da müsse man die Wurzel des Nebels packen. „Raus,mit dem Zahn! Und schon ist der Schmerz verflogen. Zur Behebung der Ursache der Uebel, die — und nicht erst seit heute — Europa quälen, muß der Vertrag von Versailles beseitigt werden. Fort mit Versailles! Fort mit allen europäischen und außereuropäischen Schmerzen." Das Uebel, so heißt es weiter, sei nicht auszurotten, indem man sich mit seinen Ursachen verbünde. Es sei deshalb ganz klar und es müsse völlig bekannt sein, was der Duce — nicht erst seit heute — denke: „Der Duce arbeitet, ohne sich auch nur eine Minute der Ruhe zu gönnen, für die Gesundung Europas, also für den Frieden, da die Völker wie die Individuen nicht zum Frieden kommen werden, wenn sie nicht zuvor geheilt sind, und sie werden nicht zur Heilung kommen, wenn sie nicht vörher alle Ursachen ihres Uebels, keine einzige ausgenommen, beseitigt haben werden."
Das ist eine so klare Sprache, daß kaum noch etwas hinzugefügt zu werden braucht. Sie zeigt nicht nur, daß Deutschland und Italien auch in dieser Krise auf derselben Linie und mit derselben Zielsetzung zusaminenwirken. Sie läßt auch erkennen, daß es gemeinsame Interessen sind, die das Schicksal der beiden Völker unlösbar miteinander verknüpfen. In Deutschland wie in Italien hat man das längst verstanden. Der „Popolo d'Jtalia" hat nur bekräftigt.
Architektonische Spannkraft.
Zum 2 5 0. Geburtstag von Kilian Ignaz Dientzenhofer.
Wer aus dem Gewinde der Prager Altstadt herausstrebt und nach Süden geht, findet noch nicht, so bald ins Freie und Breite. Ehe die düstere Bastion des Wyschchrad, in der man das am frühesten besiedelte Vorwerk der Stadt vermutet, erreicht ist, passiert er eine lange Straße mit Engpässen. Mauern und Häuser ziehen sich dicht entlang; und die Engen entstehen durch den auf- und niedergehesiden Boden. Einmal knickt der Weg um und führt zwischen schweren Mauern weiter. Rechts ist hinter ihnen das Emmauskloster versteckt, und links ummanteln sie die Treppe, die zu dem hochgelegenen Turmpaar einer barocken Kirche hinaufführt. Vom Felsen ist hinter dem steilen Mauerwerk nichts mehr zu sehen, aber die Kirche heißt „Sankt Nepomuk auf dem Felsen". Zweiundvierzig Jahre zählte Kilian Ignaz Dientzenhofer, als er 1731 diesen Bau begann. Bei feinem Vater Christoph hatte er gelernt und nach dessen Tode an der schwer gewandeten, breiten Maste der Niklaskirche auf der Kleinseite weitergebaut. Vermutlich war er auch in Italien gewesen, zum mindesten hatte er in Wien die Kunst Fischers von Erlach gesehen. Von dessen kühlen, feingezeichneten Wandsolgen hatte er freilich nur die Dichtigkeit übernommen. Er übersetzte sie in einen anderen, dynamischen Zustand. Das ist in ausgesuchter Weise an der Nepomukkirche auf dem Felsen sichtbar gemacht. Sie hat einen Umriß, den keiner leicht Bergeff en wird, auch wenn er noch so viele barocke Kirchen gesehen hat.
Tie Türme sind übereckgestellt. Doch stehen sie nun nicht gesondert und vom übrigen Gebäude abgelöst. Denn die mittlere Portalwand zieht sich in einer ungebrochenen konkaven Schwingung zwischen ihnen hin und endet an den vorderen Ecken der Türme. Zunächst sieht das aus wie eine spielerische Kombination, die vielleicht ganz grundlos verlockt hat, die gewohnte Stellung der Bauteile umzuwürseln. Bald aber wird man Sinn und Zusammenhang daran entdecken. Denn nicht daß die Fassade hoch, starr und kantig sein will, ist das Wichtigste, mag es auch das Auffälligste fein. Und die Kurve der Wand, die an den Turmkanten sich fängt, ist ja auch nicht einfach eine Art Nische, welche dekorativ das Portal umgeben soll. Wählen wir einen anderen Ausdruck: diese Stirnwand ist durchgebogen nach innen. Erst beim Eintritt ins Innere ist zu erfahren, was damit getan ist. Von allen Seiten treten in konvexer Biegung die Wände heran. Sie vereinigen sich zwar unter der weit ausgespannten Kuppelschale, aber die Wände scheinen eingedrückt, bilden gar nicht jenen glocken- haften Auslauf, auf den die Kuppeln fönst gestützt sind. Dieser deutliche Widerhall der äußeren in der inneren Sauform ist — selbst für den Barock — besonders auffällig. Die spitzgestellten Türme wirken wie Strompfeiler, die den Fluß der Formen zugleich aushalten und über das ganze Bauwerk Hinwegleiten. Der Stein ist biegsame Hülle, nicht mehr starrer Abschluß der Räume.
Es ist oft gesagt worden, daß der Barock sich in der Schwellung, Verkröpfung und in dem Bauchigwerden der vordem ruhigen klassischen Formen kundgebe. Und es äußere sich darin keineswegs behäbige Breite der Repräsentation, sondern größere Wucht und Spannung. Aber das alles ist nur die plastische Seite dieses Baustils. Zumal in der Frühzeit war er nichts anderes als die Auffüllung und Dehnung von Raumfiguren, die in sich bereits geometrisch geordnet waren. Lange Zeit war der Raum saft noch ein plastisches Gebilde, eine Art Hohlkörper, der nur eben plastisch umfaßt wurde. Das wird sofort anders, wenn der Raum selbst gleichsam durch Druckkräfte, die den Wänden verliehen werden, in neue Fassung gebracht, neu geschnitten wird. Kilian Ignaz Dientzenhofer ist der erste, wenigstens im Norden, der diesen Ton in die schwerplastische barocke Bauform hineinbringt. Das klingt zunächst alles sehr formalistisch. Wir wollen auch noch nicht fragen, was dieses Ein- und Ausschwingen zwischen Innen und Außen zu bedeuten habe. Oft mag es gewaltsam für die Form auch gefährlich scheinen, wenn die Wand zwischen zwei gegeneinanderwirkenden Kräften gepreßt und gerade darin geformt wird. Es kommt bann so weit, daß man nicht mehr wissen kann, ob von außen oder von innen der Raum mehr Kraft hat. Aber dies ist gerade das Kunstmittel. Ter Bau ist nicht mehr der „stumme", strenggeformte Kasten; die bewegtere Form der Hallen teilt sich nach außen mit. Allmählich wird daraus die Verschlingung, die wechselseitige Ueberschneidung der gespannten Gesimse. Bald ist kaum noch zu unterscheiden, ob außen oder innen diese Schärfung der Formen begonnen hat. Dientzenhofers Kirche ist ein solches spätes und kompliziertes Resultat. Die Wand ist in Mulden eingeschwungen, und deren Kurven durchdringen einander, schlagen schließlich um, so daß auch wieder vorgewölbte Wände entstehen. Aber keine von ihnen, welcher Standort auch gewählt werde, wirkt ausladend, wie die Ruhe und Masse der Plastik ausladend wirken kann. Im Gegenteil: ihre geschwungene Form ist eigentlich wieder unplastijch geworden, denn sie ist das Ergebnis der Spannkraft, die die Wand — eine gewalzte Hülle des Raums — zu beweisen hat. Diese Spannkraft ist eine eminent tektonische Prägung, immer seltener bedient sie sich des schwellenden plastischen Schmucks. Die Raum- kurven selbst umschreiben jetzt dessen bisheriges körperhaftes Volumen. Dazu sind aber stets die feinsten, prägnantesten Profile das geeignete Mittel.
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Nun könnte man sagen, daß diese Finesse ober, wörtlich verstanden, diese Verkörperung des reich gewundenen Raumes noch nicht ausreiche, um einen Baumeister so berühmt zu machen, wie Dientzenhofer es ist. Denn schließlich hat Borromini vor ihm die Wandlinien so fest zu spannen gewußt, daß die Schale des Raums auch die unberechenbarsten, barockesten Kurven genau auffing. Und Guarini hat zuerst jene von Borromini nur in einem einzigen Bau (S. Ivo, Rom) versuchte Kantigkeit der nach innen den Raum anschneidenden Wandfelder zum Grundprinzip feiner Welke gemacht. Aus ihm entstand gerade diejenige Form, die in Dientzenhofers „Felsen"-Kirche so sehr auffällt. Aber es ist offenbar, daß sie den
Raum noch mehr (wenn auch leiser und weniger hart) in Bewegung und Torsion versetzt hat, als es den Italienern gelang. Hier liegt die erste Bedingung, die dem deutschen Spätbarock jene strahlende, schwebende Form verleiht, die es im Süden nie gibt. Der Raum und seine toechselvolle Stufung im Licht besitzen eben im Norden die stärkere Potenz.
Es sind nicht so sehr aufgeschichtete Mauern als ausgespannte Wände, auf denen die Raumformen sich gleichsam abzeichnen. Man könnte fast sagen: wie ein Wind, wie eine noch akute, flüssige Bewegung sind Impulse des Raums, als sei er noch im Werden, auf dem plastisch rieselnden Relief der Wände abgedrückt. Im äußeren Bild des Gebäudes wäre solcher Abdruck wie ein Stück des Freiraums zu verstehen, dessen Schließung fehlt: so als stünde von einem unfertigen oder wieder aufgelösten Rauminnern nur noch eine Wand. Das ist die Phantasie dieser Fassade: der Raum greift nach außen. Daher die Vorliebe für konkav eingeschwungene Wände. Innen aber entsteht daraus eine geschwungene Wellenform, die als eine Antwort auf den von außen geübten Druck zu lesen ist — oft einem Gesäß ähnlich, das zugleich von außen wie von innen in getriebener Arbeit geformt wurde. Derart entsteht in barocken Bauten die doppelte Form, stets in Umkehrung die eine Seite in bet andern spiegelnd. Nur bei wenigen deutschen Barockarchitekten (etwa I. M. Fischer und Dominikus Zimmermann) ist diese Kunst der Höhlung so ausgeprägt. (Höchstens wäre zu sagen, daß den beiden Zweigen der Familie Dientzenhofer, dem Prager wie dem bayerischen, diese Neigung gemeinsam sei: eine Generation vorher schon folgt ihr Johann Dientzenhofer mit seiner Klosterkirche in Banz.) Wand erscheint jetzt nicht mehr einseitig plastisch, sondern wie eingepreßt zwischen zweierlei Raumverdichtung. Der Bau erhebt sich als die Scheidewand zwischen einer räumlichen Atmosphäre, die eingefangen ist, und einer andern, die sich von außen um die Wandfläche legt und ihren Pilastern und Gesimsen ein formales Relief mitteilt.
In Dientzenhofers Bauten hat sich das Grundwesen des deutschen Spätbarock gefestigt und eingespielt. Die unbewegte, geschichtete und geradlinige Wand gilt nicht mehr viel, auch nicht als Kontrast zu einer plastischen Schwellform im Innern, wje sie der Frühbarock brauchte. Diese Vorliebe sollte auf neue, leichtere Weise erst Balthasar Neumann wieder aufnehmen: die einfache Außenwand hat er wie ein Kartenhaus um die unerwarteten, sausenden und verwickelten Zirkelschläge des Innern gestellt. Dientzenhofer meidet dieses allzu leichte Feuerwerk; dennoch ist auch für ihn alles Plastische längst in dem Strom der räumlichen Linienbetoegung aufgegangen. An der Prager Kirche S. Niklas in der Altstadt sieht man noch, wie diese Formschmelze im Entstehen ist. Tie Fassade ist noch hart: Beiderseits des Baldachin- Portals stehen gekuppelte Säulen, überdeckt von Segmentgiebeln, wie Pfähle und Siandzeichen vor der Wand aufgereiht. Im Innern aber kehren die gleichen Formen wieder, damit sie der Kuppel von den Ecken her die rundende Ueberleitung geben. In der Maria-Mazdalenen-Kirche in Karlsbad endlich ist die harte Pfostenform zu einem breitbogig aus Emporen auffteigenben Gestänge geworben. Nun scheint von unten her durch die elastischen j
Spannbögen der Kuppel das erreicht/ was in den eingeftemmfen Pfeilern der Nepomukkirche auf dem Felsen nur angebeutet war unb eher das Bild eines hart umspannten, gefesselten Raumes ergeben hatte.
Dientzenhofer zählt unter die barocken Architekten, die bett Kuppelraum allen anderen Räumen vorgezogen haben. Zugleich aber sucht er scharfkantige und fest einbringenbe Profilformen damit zu verknüpfen. So kommt es, daß mit der bewegten Weite seiner Bauart stets eine gewisse Kühle einhergeht, die sicherlich in der fein zergliederten Zeichnung aller Bauteile ihre Herkunft hat. Das zeigt in sublimer Weise das Palais Piccolomini in Prag. Die neun Fensterachsen des breit gestreckten Gebäudes sind von Pilastern abgelöst, die sanft zu hängen scheinen und doch hartblockig sind, so daß sie wie Basaltfacetten die Fläche gliedern. In der Mitte überdeckt sie ein Tempelgicbel, seitlich sind je zwei durch einen Segmentabschliiß zusammengefaßt, so daß sie gestelzt wie ein eingefalzter Pfosten hervorragen. Darin zeigt sich bet Einklang von Berechnung und vitaler Spannkraft, der gerade den besten Varockarchitekten gemeinsam ist. Hier berührt er sich vor allem mit der schweigsamen Kühle in der Form Fischers von Erlach; ganz abgesehen davon, daß Dientzenhofer in Einzelheiten, wie den oberen Halbgeschoßfenstern, die im Gebälk fast verborgen werben, von bem großen Wiener gelernt hat.
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Nun hat aber Dientzenhofer in bem böhmischen Sanb noch eine besondere Aufgabe erfüllt. Es ist nicht bas einzige Verbienst, baß er bie erste Krisis zwischen mechanistischer unb bynamischer Form, deren Ausgleich ja das eigentliche Paradox des Barockzeitalters ausmacht, auf seine eigene produktive Weise begriffen hat. Es kommt hinzu, daß der Barock gerade in der böhmischen Umgebung in einer eigentümlichen Lage war. Wer nach Prag kommt, wird finden, daß es in Europa keine so barock schwellende und unheimlich durchhöhlte Stadt gibt wie diese. Es ist aber sicher nicht der barocke Charakter allein, der uns diesen Eindruck macht. Vielmehr scheint das slawische Wesen der Tschechen, das so manches in der städtischen Atmosphäre bestimmt, selbst soviel weiche Schwere —> und zwar von jeher — zu besitzen, die wir angesichts des Barocks nur als die Eigenschaft eines ober zweier Jahrhunderte anzusehen gewöhnt sind. Schon im vierzehnten Jahrhundert, unter Karls IV. Herrschaft, ist allem böhmischen Bildwerk eine dichte unb zugleich stets verschwimMenbe Schwere eigen. Im siebzehnten Jahrhunbert ist bieser Untergrund aller Erscheinung nicht verschwunden. Sa hatte der Barock ein Medium: in ihm konnte es schwimmen, ebenso gut auch versinken. Diesen slawischen Sinn für unbifferen- äierte Plastik zu übernehmen, fruchtbar zu machen unb nie abzustoßen, beburfte es für einen Barockarchitekten umso mehr der unbeirrbaren, prägnanten Spannkraft, als der barocke Formgeist stets von sich aus schon der Verlockung plastischen Ueberschwangs widerstehen mußte. Dies gespürt zu haben und sich doch nicht vor dem tschechischen Formmebium zu sperren, ist bie eigentliche Leistung des Kilian Ignaz. So konnte es geschehen, baß ein beutscher Baumeister (wie schon vorher der Vater Dientzenhofer) so weitgehend den Baucharakter einer Stadt bestimmt hat, die doch zugleich .ozr-