Samstag, 1. Juni 1940

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84. Jahrgang Ur» 274

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Weitere Zweigstellen an dea größeren Orten.

Die fra nw st scheu Truppen aufgerieben.

Angriffe gegen die Reste des englischen Heeres. Wesentliche deutsche Streitkräfte für neue Aufgaben frei.

Führerhauptquartier, 31. Mai. (TNB.) Tas Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt:

Während die Masse der französischen Truppen in Nordoftfrankreich aufgerieben oder gefangen ist, leisten an wenigen Stellen versprengte und eingeschloffene Abteilungen noch Widerstand. Er wird in kurzer Zeit gebrochen sein. Ter An­griff gegen die Reste des englischen Heeres in dem flache«, nurmehr wenige Kilometer tiefen und durch Anstauungen der Kanäle geschützten Bogen längs der Küste zwischen Furnes- Bergues und westlich Dünkirchen ist im Gange. Der Gegner wehrt sich hier zähe in dem Bestreben, möglichst viele Soldaten, wenn auch ohne Gerät, auf die Schiffe zu retten. Die um Eaffel ein- geschloffenen englischen Kräfte wurden bei dem Versuch, nach Norden durchzubreche», aufgerieben. Die Maffe der deutschen _ Divisionen im Artois und in Flandern ist für neue Aufgaben frei geworden. Die Gefangenen- und Beutezahlen konnten auch noch nicht überschlägig ermittelt werden.

Der Einsatz der Luftwaffe war im Laufe des 30. Mai durch die Wetterlage stark beeinträchtigt. Trotzdem wurden die Hafenanlagen von Dünkirchen erneut angegriffen. Tie Kriegs­marine übernahm im gesamten holländischen und in dem in unserer Hand befindlichen belgischen und französischen Küstengebiet die Küstenverteidigung. Einem deutschen Schnellboot gelang es, vor der belgischen Küste einen feindlichen Zerstörer durch Torpedoschuß zu versenken.

I« der Nacht zum 31. Mai griffe« wiederum britische Flug­zeuge in Norddeutschland nichtmilitärische Ziele an. Wesentlicher Schaden ist nirgends angerichtet worden. In Südholstein wurde ein feindliches Flugzeug durch Nachtjäger abgeschoffen. In Nord­

srankreich verlor der Feind drei französische, vor Stavanger ein britisches Kampfflugzeug in Luftkimpfen. Zwei eigene Flugzeuge werden vermißt.

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Die Eingekesselten.

Unsere Karte zeigt die militärische Lage im Norden nach dem Tagesbericht vom Donnerstag. Die schraffierten Teile geben wieder, wo sich um diese Zeit die britischen und französischen Armeen befanden. Man sieht, wie der deutsche Durchstoß bei Lille und dann der zwischen Poperinghe und Gassel die feindlichen Verbindungslinien zerschnitten und innerhalb des großen Kessels von neuem die feind­lichen Verbände ab gesplittert hat.

Kebruns Abschirbswort tmbtrlkrburmcr.

(Drahtmeldung unseres Korrespondenten.)

P Zürich, 31. Mai. Während das erbitterte Ringen der seit mehr als zehn Tagen im Norden Frankreichs tobenden Schlacht der Entscheidung entgegcngeht, hat der Präsident der französischen Republik, Lebrun, an die französische Nordarmee so etwas wie ein Abschiedswort gerichtet. In einer Botschaft an den Oberbefehls­haber dieser Armee, General Blanchard, erklärt Lebrun, diese Schlacht werdein den militärischen Annalen aller Zeiten einen hervorragenden Platz einnehmen". Er übermittle den französischen Truppen den dankbaren Grusi des Vaterlandes und den Ausdruck der Bewunderung für ihren Mut und ihre Energie.

Die französische Regierung hat übrigens jetzt zum ersten Male einige Angaben über die Befehlsgewalt bei den an der Schlacht in Flandern beteiligten französischen Truppen gemacht. Dabei wurde auch der General Prioux genannt, der die französischen Divisionen im Südflügel der Nordarmee führe. Tie französischen Zeitungen stellten ihn als den Truppensührer vor, dem es gelingen werde, durch die deutsche Angriffsmasse hindurch einen Weg in das befestigte Lager von Dünkirchen zu lbrechcn. Dem französischen Leser ergeht es jetzt mit dem General Priour ebenso wie vor einer Woche mit dem General Glraud, an dessen Stelle inzwischen General Blanchard getreten ist. Wie General Giraud ist nun auch General Prioux mit Offizieren seines Stabes in dem gleichen

Augenblick in deutsche Gefangenschaft geraten, als in den sranzö- sifchen Zeitungen seine Fähigkeiten besonders hervorgehoben wurden.

Der ehemalige belgische Ministerpräsident van Zceland ist van einer Reise nach den Vereinigte« Staaten zurückgekehrt und in Paris eingetroffen, wo er sich mit Pierlot und Spaak in Ver­bindung gesetzt hat; er hatte auch eine Unterredung mit dem französischen Ministerpräsidenten Reynaud. Staatspräsident Lebrun empfing am Donnerstag ebenfalls van Zeeland und Pierlot.

Wie die französischen Provinzzeitungen ohne Kommentar ver­merken, wurde in Nantes ein Soldat, der in einem Cafedefai- tistifche Reden" geführt habe, zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

In Frankreich folgen die Verordnungen und Aufrufe zur be­schleunigten Vermehrung der Herstellung von Flugzeugen und Panzerwagen fast stündlich aufeinander. So haben gestern die zu­ständigen Regierungsbehörden, um die Industrie zur höchsten Eile anzutreiben, Strafmaßnahmen für den Fall von Ueberschreitungen der gesetzten Lieferfristen angedroht, und die Metallarbeitcrgewcrk- schaft hat sich an ihre Mitglieder mit einem Aufruf gewandt, die Bemühungen um die Produktionssteigerung mit allen Kräften zu unterstützen.

Nach einer Meldung derDaily Mail" ist mit derinoffiziel­len" Evakuierung von Dover begonnen worden. Ten gan­zen Mittwoch hindurch hätten Züge mit Frauen und Kindern die Stadt verlassen.

Türkische Aeberlegungen

über den Wert der Abmachungen mit den Westmächtcn.

(Drahtmeldung unserer Korrespondenten.)

WvD Istanbul, 31. Mai. Ter Abgeordnete Uunus Nadi meint in seinem BlattCumhuriyet", es gebe jetzt in der Türkei wohl Leute, die sagten:Warum hat die Türkei Abkommen mit Frankreich und England abgeschlossen? Die Deutschen tragen überall Erfolge davon. Wohin wird das führen?" Die Antwort darauf verstehe sich von.selbst. Tie von der Türkei getroffene Ver­einbarung trete nut im Falle eines Angriffs «ruf das Sicherheits­gebiet der Türkei in Kraft, sie sei nicht offensiv, sondern defen­siv. Tie Maßnahme fei unentbehrlich gewesen, und ihr habe man es zu danken, daß es jetzt auf dem Balkan ein Gleichgewicht der Kräfte gebe. DieFünfte Kolonne", die vielleicht in einem ge­wesen Grade auch in der Türkei existiere, könne auf eine so ein­fache Argumentation nichts erwidern und vermöge deshalb nicht, unsere Nerven aus Stahl zu erschüttern". Auch verschiedene an­dere türkische Zeitungen schreiben heut« von derFünften Ko­lonne". TieVakit" geht so weit, die Polizei von Istanbul, wo Menschen aus allen Ländern lebten, zu einet genauen Beobachtung der ausländischen Gäste aufzufordern. Offenbar befürchten jetzt weiteste türkische Kreise, es könne nun unter dem Eindruck der deutschen Erfolge in Nordfrankreich die Kritik laut werden, das Bündnis mit England und Frankreich fei ein Fehler gewesen. Tie leitenden türkischen Kreise, die so großes Gewicht auf die ungestörte Neutralität ihresSicherheitsgebietes", also des Bal-

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kans legep, hätten vielleicht mehr Anlaß, über eine Meldung nach- zufinnen, die heute auf der Titelseite vieler^ türkischer Blätter er­schien, daß nämlich der Parlamentarische Staatssekretär des bri­tischen Jnformationsministeriums, Nieolson, im Unterhaus erklärt habe, die britische Propaganda auf dem Balkan werde or­ganisiert und ein Instrukteur solle sich zu diesem Zeweck nach dem Balkan begeben.

Im übrigen denkt man hier weiter vor allem über Italien nach. Immer wieder wird zur eigenen Beruhigu'ng in langen Artikeln dargelegt, Italien habe ebensowenig wie Deutschland und Sowjetrußsand kein Interesse daran, kriegerisch gegen die Balkankänber vorzugehen. Aber die Balkanländer müßten, so heißt es in einem Leitartikel der ZeitungYeni Sabah", untereinander einig sein, wenn sie Interventionen jeder Art verhüten wollten. Tie Militärkritiker beurteilen die Kriegslage immer' realistischer. General Erkilet erklärt imSon Posta", die Verbündeten hätten nun ihre Entschlußlosigkeit zu büßen. General W e y g a n d besitze nicht das große Können, das Marschall Jossre in der Marneschlacht bewiesen habe. Es gebe jetzt keine Rettung mehr für die alliierten Heere in Nordfrankreich. Bis vor kurzem hatte man sich auch in der Türkei damit getröstet, Weygand, werde verstehen, die Sage auf dem französischen Kriegsschauplatz wiederherzustellen. Ter Artikel des Generals Erkißt zeigt, daß manche türkische Offiziere nun das Vertrauen auf Weygand verloren haben. Der Glaube an die Sache der Wcstmächte ist hier ernstlich erschüttert. Auch spürt man in zunehmendem Maße das Versagen der englisch-französischen W i r t s ch a f t s m ä r k t e, auf die sich die Türkei mit künstlichen Methoden sehr einseitig umgestellt hat.

ankfurter Zeitun g".)

Italienische Nachrichten

# Rom, 31. Mai.

Aus London wird gemeldet, daß die Augenzeugen der furcht­baren Vernichtungsschlacht gegen das englische Expeditionskorps, die in einem kleinen südöstlichen Hafen an Land gesetzt wurden, für die englischen Ohren schreckenerregende Dinge erzählten. Tieses Schweigen herrschte zunächst unter den Zuschauern, als die Sol­daten an Land gingen. Da diese aber glücklich dem Tod entronnen zu sein, freundlich grüßten, brach die Menge in laute Hochrufe aus. Seit Tagen hatten die Tommies nichts gegessen und kaum gefchlasen. Ihre Berichte über die Bombardierung waren schrecklich. Ein Unteroffizier, der den Weltkrieg mitgemacht hatte, sagte, ein Vergleich mit damals fei überhaupt nicht möglich.Wir brauchen mehr Flugzeuge", meinten alle. Die Stoßkraft der Deutschen ist nach diesen Berichten unwiderstehlich. Man kann sich vorstellen, wie diese nun ins Publikum gelangenden Wahrheiten auf die Volksstimmung einwirken werden. Allmählich wird sich auch die furchtbare Katastrophe der englischen Transportschiffe bei Dün­kirchen in England tzerumsprechen.

Apokalyptische Vorgänge."

Als Vorzeichen des Möglichen und des Kommenden hat gerade diese Nachricht über die Vernichtung der Transportschiffe in Italien überaus stark gewirkt. Man empfindet die Vorgänge als etwas geradezu Apokalyptisches, wie eine sehr hochgestellte italie­nische Persönlichkeit sagte. Tie Korrespondenten schildern die deutsche Taktik, die die Möglichkeit schuf, Transportschiffe und Truppen gleichzeitig zu zertrümmern.

London, das in eine Art von Zitadelle verwandelt worden'sei, erwarte jetzt zitternd den deutschen Angriff, so berichten die Blät­ter Der Gesundheitsminister, MacTonald, erklärte öffentlich, die Gefahr sei so groß, daß der s o f o 11 i g c Sl b t r a n ® p o r t~a 11 e r St in bet aus den gefährdeten Zonen notwendig sei. Am Sonntag soll die Räumung beginnen. Der frühere englische Gesandte im Haag, Sir Neville Bland, sagte in einer offenbar sehr aufgeregten Rundfunkansprache:Wir müssen andere diabolische lleberraschun- gen erwarten." Er machte besonders auf die Gefahr aufmertfam, öie von den auf dem Luftweg transportierten Truppen in Hol­land ausgegangen sei. Im übrigen sind die Nachrichten aus Eng­land nicht sehr ausgiebig. Auf diplomatischem Gebiet zerbrechen sich die englischen Journalisten den Kopf, was die Haltung Ruß­

lands bedeute und ob es der Moskauer Regierung genügen werde, wenn Sir Stassord Cripps nunmehrim Range eines Botschaf­ters" nach Rußland geschickt werde. Einige scheinen zu befürchten, daß England von Moskau neue Demütigungen zu erwarten hat.

Die Ausbeute der Berichterstatter aus Paris ist heute eben­falls nicht groß und durch die französische Zensur sehr erschwert. Man erfährt jedoch, daß die Wahrheit mehr und mehr durchdringt. Ein Telegramm des Präsidenten der Republik an General Blan­chard scheint weniger von Sieg als von der Tatsache zu sprechen, daß die im Gang befindliche Schlachtden ersten Platz in der Militärgeschichte aller Zeiten einnehmen wird". Die. Regierung bemüht sich um einen innerpolitischen Waffenstillstand, und man spricht von der Notwendigkeit,ein richtiges Kriegskabinett" zu­stande zu bringen. Zwei weitere Jahresklassen wurden einberufen. Dem Kommandanten der belgischen Sektion."

Zu der persönlichen Veninglimpfung des Königs der Bel­gier kommt nun, wie man heute aus Paris meldet, seine per­sönliche Beraubung. Den Vertrauensleuten bcS Königs ist in Paris die Herausgabe der kürzlich in Verwahrung gegebenen La­dung zweier königlicher Automobile verweigert worden, die unter anderem die Krone und dem König persönlich gehörende Juwelen und Wertgegenstände enthielt. Dies ist ein Teilstück des Kampfes, den die Minister Frankreichs und Belgiens gemeinsam gegen den belgischen Souverän sichren. Wie schamlos die Lüge Rey - nauds war, der gesagt hat, der König habe ohne Wissen des Generals Blanchard kapituliert, geht aus den neuesten Feststellun­gen hervor, die der Korrespondent derAgenzia Stcfani" zu machen in der Lage ist. Tie Beratungen, die der König vor der Kapitu­lation mit den Vertretern Englands und Frankreichs hatte, waren noch zahlreicher und ausgiebiger, als bisher schon bekannt war. Der König hat insbesondere persönlich mit dem französischen Oder- fommanbierenben Blancharb unb mit bem englischen Oberkom- manbierenben, General Gort, torrefponbiert. Er hat nicht nur die­sen, sondern Reynaud, Churchill und sogar dem englischen König seine Gesichtspunkte bekanntgegeben. Nachdem alle diese Instanzen Kenntnis von der Absicht des Königs hatten, beschlossen sie jedoch, sich darüber hinwegzusetzcn, und General Blanchard gab dem König den Befehl, entsprechend den Instruktionen Weygauds zu handeln. Er wählte dazu die schroffe Form, den Befehldem Kommandanten der belgischen Sektion" zu erteilen unb somit selbst

Klück unb Ende ber ^fianfalie.

Annäherung an Ferdinanb Raimund aus Anlaß seines 150. Geburtstages.

Von Erik G. Wickenburg.

Ein Kind, zum Märchenerzählen gebracht, würde sehr bald die üblichen Spielregeln vergessen und weit in jene Bezirke hinausschweifen, wo sich die Logik erst selber gebiert und wo der Kühnheit der Erfindung die Unwahrscheinlichkeit aller Geschehnisse den Rang ablaufcn möchte. Die Verwicklungen, die in solch losen Knoten geschürzt würden, trügen alsbald den Charakter eines höchst durchlässigen, aber ebenso gra­ziösen Gewebes, denn der landesübliche Verstand ober gar dasjenige, was die Schule (hier die Bildung vorstellend) bei­zutragen hätte, wäre längst verloren gegenüber dem allmäch­tigen und unaufhaltsamen Wirken der Phantasie. Der Mär­chenprinz, zuerst ganz nüchtern auf dieser Erde geboten, er­hielte bald Zuspruch von Feen, die aber vielleicht gar den entscheidenden Wiegenwunsch auszusprechen vergäßen, den dann ein späterer Bote an passender Stelle, nämlich dort, wo er zur weiteren Handlungs-Freiheit gebraucht würde, aus­zusprechen sich beeilte. Ein magisches Testament entfaltete seine Schwingen. Liefe das Prinzeßlein'Gefahr. in versan­denden Begebenheiten stecken zu bleiben, so würde sich ein rosenflügeliger Engel nicht nehmen lassen, ihr einen Auftrag aus möndfernem Land zu übermitteln, die sofort die Aktion in einer Art von chronischem Alarmismus ins Schweben brächte. Mit einem Wort: die Phantasie läßt sich nicht be­fehlen,die Phantasie kann alles, sie ist ein mutwilliges Ge­schöpf", wie Raimund sich aus ihrem eignen Munde ver­nehmen läßt, sie kennt nur eine Bedingung ihres Schaffens: sie muß frei fein, wenn sie dichten soll."

Diese Freiheit hat sich Raimund ohne viel Umstände für feine Muse selber genommen. Ihm verschlägt's nichts, wenn er für die bescheidenen Wandlungen, deren ein menschlicher Busen fähig ist, einen überaus mächtigen und schon im Namen (Longimanus") erbumfaffenben Geisterfürsten strapazieren muß. Er läßt die bürgerliche Welt ohne Genierer von Ko­bolden und Dämonen, Feen und überirdischen Stuhlrichtern gelenkt werden, das irrationale Element scheint ihm nur natürlich für den Aufbau feine Phantasie-Welt, aber er ver­stoßt auch darin gegen die Kindlichkeit seines Tuns nicht, daß er nun etwa in einen bitterbösen Ernst verfiele, der es als Kränkung erhabener Erscheinungen ansehen würde, wenn die Herrscher im Geisterreich selber die Züge der Bonhomie tragen. Die Illusion, die er sich schafft und uns zu glauben aufgibt, wird ihm nicht gestört durch ein so bürgerliches Be­tragen, wie es eben jener Longimanus an den Tag legt, ber sich darüber beschwert, daß ihm in sein Wokkenbett zu nasser Flaum, nämlich aus Regenwolken, gelegt worden sei. Der große Geisterfürst findet es nicht einmal unter feiner Würde,

sich mit glänzenden Wortspielen abzugeben: indem er etwa den ihm unterstellten Druden (deren Ausgabe es gewesen war, die Menschen durch nächtliche Beklemmungen zu mole- stieren), dieDruckfreiheit" entzieht, dies zu einer Zeit, wo ringsum die Mctternichschen Aktualitätsbezüge pilzgleich aus der Erde geschossen kamen.

Aber nicht das Politische ist der Wunsch und die Absicht des Theaterautors Raimund. Mag in der schönen Feerie, die er sich ausgesucht hat, um seine Besucher zu beglücken, neben mancher Tradition auch eine kleine barocke Seligkeit über die Befreiung des Vaterlandes von der napoleoniden Bedrückung nachklingen, das Eigentliche bleibt ihm doch das freie Walten seiner-Phantasie und solche Allusionen wachsen anders als bei dem schärferen und skeptischeren Restroh (den er als Antipoden gesehen haben soll) wie beiläufige Blüm­lein am Wegrand einer ins Weite und Hohe hinausführenden Straße. Anders vielleicht schon die soziologischen Einsichten, denen er sich bewußter auszuliefern scheint. ImVerschwen­der" muß der Kapitalist vor seinem eigenen Vermögen kapi­tulieren, um die Beständigkeit des Handwerks in der Figur des berühmten Hobellied-Sängers Valentin recht deutlich dar­zutun. Wär's fein Märchen, bann würbe das Stück mit ber rührenben Treue bes verstoßenen Bebienten enben, wär's ein Sozialdrama, dann käme ber schlaue Betrüger allein zu anklägerisch großem Ansehen. Aber hier wie in allen seinen Werken führt dem Theaterdichter Raimunb der gütige Mensch Raimund die Feder, und dieser läßt es nicht zu, daß nun ein schicksalgestrafter, im Grund edler Mensch vom Almosen seines Untergebenen weiterleben soll. Mit einer Wendung, die in jedem ernsten Stück als das berüchtigte Eingreifen des deus ex machina gebrandmarkt werden müßte, spediert ber Dichter seinen verarmten Verschwenber roicber in märchen­haft gute Verhältnisse zurück, unb dies schon allein deshalb, damit die Treue des Bedienten ihren verdienten Lohn eines Jubellebensabends sinken kann.

Daß Raimund selbst nicht so ganz an die Dichte der goldenen Böden glauben konnte, die das Handwerk soeben noch bei den Physiokraten gehabt hatte, gibt einen ganz leisen Schimmer der Wehmut; seht ihr, sagt er gleichsam, es wäre ja ganz schön mit den Opfern, die ber Hanbwerker seinem ehe­maligen Herrn bringen will, aber besser ist es boch, ich laste ihn wieder reich werben. Weiter unb tiefer ist die Erkenntnis ber Wehen, unter denen das neunzehnte Jahrhundert geboren worden ist, wohl auch schwerlich gegangen.

Das treffendste Beispiel findet sich imAlpenkönig und Menschenfeind", wo die Aktion einer Menschenbekehrung am Rande die ganze Erschütterung der Sozialstruktur andeutet. Die Szene in der Köhlerhütte beginnt genrehaft, wird aber sehr rasch durch den Geldbeutel des einbringenden Rappelkopf zum säkularen Tribunal. Tenn die Köhlerleute geben mit einer verwunderten Freude, die nur im Lied, also in der Kunst, wieder aufgehoben wird, ihr Dach über bem Kopf gegen schäbige Goldstücke hin, sie werden durch die kleine Bewegung

des zählenden Daumens in obdachlose, ihrer Heimat beraubte Proletarier verwandelt; die ersten Menschen des industriellen Jahrhunderts gleichsam, die aus ihrem zwar fragwürdigen Paradies immerhin aus der eignen Hütte vertrieben werden.

Es wäre allzu billig, zu vermuten, Raimund habe diese Szene allein um des emotionellen Effektes willen eingefügt; der Zweifel, ob er unnaio gehandelt habe, ist dagegen erlaubt. Wahrscheinlich hat bet Theaterdichter, der seine Stücke nur deswegen selber schrieb, weil die Autoren ihn aufsitzen ließen, nichts weiter getan, als feiner ungefeffelten Phantasie die Zügel schießen zu taffen. Ein Mensch von der tiefen Anlage und von den recht schweren Lebenserfahrungen eines Raimund konnte vielleicht gar nicht anders als immer eine gewisse Totalität seiner Umwelt mit einzubeziehen, auch wenn er sich selbst darüber nicht im klaren war, welche Seins- und Daseins­elemente er in seinen Feenteppich mitverwirkte.

Vielleicht, so ist auch angenommen worden, bedeutet sogar die Flucht ins Feenreich eine Absage an Zeit und Leben; alles, was sich in den massiven Anfängen der reinen Natur­wissenschaften zu verflüchtigen begann, ist in einer höheren Sphäre aufgefangen, dort, wo es sich noch eine bescheidene Existenz »erstatten durfte. Und wirkt es nicht wie ein Gruß an den so viel gesicherteren Kollegen Goethe, daß Raimund zur Befriedigung einer kleinen Koboldlaune gleich hundert Pudel in Bewegung seht, die nach seinem Regiewunsch über die ganze Bühnerourlen* sollen, ganz ohne tiefere Bedeu­tung aber nicht ohne Bezug? Grillparzer hat es gut erkannt. Ich wollte", sagt er einmal,sämtliche deutschen Dichter studierten das Werk eines Verfassers, dem sie an Bildung himmelweit überlegen sind, um zu begreifen, woran es unfern gesteigerten Bestrebungen eigentlich fehlt, um einzusehen, daß nicht in der Idee die Aufgabe der Kunst liegt, sondern in der Belebung der Idee..."

Der solcherart für die Druckfreiheit der Phantasie eintrat, war selbst einer der ehrwürdigsten Diener der Idee und seinem Rang nach em deutscher Klassiker. Phantasie aber ist Vorweg­nahme; sie macht das Heldentum sauer; schön ist ihr die Gegenwart erst in der Zukunft, wenn sie Vergangenheit geworden ist, und das Bewußtsein einer solchen weiten, ja strahlenden Vergänglichkeit macht die Melancholie aus, ber sich der Phantasiereiche niemals wirb entziehen können. Aexigst- lich vor bem, was ihm sein Wcltbilb zerstören könnte, sucht ber mit ihr Begabte Folgen zu einer Zeit schon auszulöschen, wo sie noch gar nicht eingetreten sind. Die Trauer eines späteren Abschieds nimmt seine schönsten Tage gefangen, der Anblick einer schweigsamen Bergkette schmiedet ihn in Be­klemmung, weil er sie bald nicht mehr und niemals wieder in dieser klangreichen Abendröte sehen wird. Des Eulcnsviegel Treiben scheint ihm weniger verwunderlich als die Gereizt­heit der Spötter über einen, der im Aufsteigen die Annehm­lichkeit des Niederwandelns vorkostet und im gleitenden Weg kommende Schweißausbrüche erahnen muß.

In diesem Reich der edlen Phantasie spielt die Schöpfung Raimunds, rollt auch fain Leben ab. Erfolge treiben ihn in

das geliebte Gebirge hinaus, die Genüsse der inmgen Land­schaft zwingen ihn hastig in das intellektualistische ^tadtdasein zurück. Ten tragischen Schkußpunkt kennen wir: von einem umherstreunenden Hund gebissen, meinte sich der Einfallsreiche von Tollwut befallen. Er nahm die Folgen vorweg, die er ahnte, die Gefahren vorweg, die seinen Mitmenschen drohten- die Qualen vorweg, die er sich selber ersparen wollte. Er griff zur Pistole und traf sich so unglücklich, daß er noch tagelang Leiden erdulden mußte, die den Schmerzen, die er vermeiden hatte wollen, gewiß ebenbürtig waren. Geduldig ertrug er sie, aber das Gewissen ließ ihm keine Ruhe:Gott anbeten* find die letzten Worte, die er nach dem Zeugnis von Zeitgenossen ber Sprache unfähig, auf ein Papier gekritzelt hat.

Ist es nicht, als hätte die Phantasie, die ihn sein Leben lang unter ihren Mantel genommen hatte, uns allen beweisen wollen, wie gefährlich der Umgang mit ihr sei, wie der Geist sich des ganzen Menschen bemächtige, der sich einer Schöpfung unterfängt, wie das Glück jeglicher Produktion durch den Schwertstreich des Schicksals gekennzeichnet ist?

Tie schwermütigen Augen des Feenfreundcs schloffen sich vor etwas mehr als hundert Jahren, er war noch jung, uns heute erst ist sein hundertfünfzigster Geburtstag. Fern scheint dennoch diese Welt, tausendfach verflossen jedes Jahr, und trifft immer wieder mitten in die Gegenwart hinein. So ein­fach ist feine Requisitenkammer! Ein Bedientenpaar, ein Lie­bespaar, welches getrennt unb zufammcngeführt wirb, einige Fccn und ein paar mehr ober minder edle, mehr ober minder rabiate Menschen bewegen sich im Schachbrett nach einer scheinbar ganz konventionellen Regel. Aber einer ber albernen Bebienten singt das ergreifende Volkslied, und der andere Hat die tiefsinnige Eigenschaft, allen Ueberraschungen die welt­männische Formel entgegenzusetzen:Ich war zwei Jahre in Pffris, aber dergleichen ist mir noch nicht vorgckommcn." Da­mit ist für diesen sonderbaren Philister auch das Erregendste abgetan, es ist die Zauberformel eines Habakuk so heißt er nämlich ganz etatmäßig, um die Bleiklötze der Wirklich­keit behende zu jonglieren. Es ist die Philosophie der Unschein- barkeit, eine Lebenskunst, die sich mit Winzigkeiten zu beschei­den weitz und so recht von Herzen unpathetisch sein kann.

Dieser Habakuk sagt seine zwei Pariser Jahre aber nicht nur aus Manier ans, so naiv hat ihn ber Dichter Raimund wwder nicht gesehen, das war undenkbar, denn so primitiv ist das Leben nur bei gewissen Halbdichtern. Nein der gute Habakuk war schon zwei Jahre wo, nämlich hinter schwedi­schen Gardinen, und immer wieder muß er davon sprechen unb bie ewige Berufung ist auch eine unaufhörliche Be­schwörung.

Das ist einer ber Lotpunkte in menschliche Tiefen die an diesem kleinen Beispiel aus Raimunds Werk sich offenbart einer der vielen, der unabsichtlichen, der rein geschenkten die das Werk dieses weisen Zauberkünstlers gleich dämonisch er­scheinen lassen wie die vermeintliche Kontemplation seines Kompatrioten und Leidensgefährten, des als biedermeierlich verschrienen und lonac m£fe»«kn.@rosja <*t»aibcrt Stifters