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Lis Nisins Chronik (Frankfurter Wochenschrift) Po. 38.
und mit beenden hilft, und nun erst der hohe Kranke, der heute vor acht Tagen in 56 Stunden und unter dem Gefühl, die Augen der ganzen Welt auf sich gerichtet zu sehen, einen halben Erdtheil durchflog. Es liegt ein Siegen auch in diesen! Bezwingen des Körperlichen, wie es hier leider erforderlich war, und ohne Byzantiner zu fein, kann man daher sagen: der neue Kaiser ist in der Sonntag- Mitternacht in das Schloß seiner Väter eingezogen als ein Held.
Seit jener Stunde hat Deutschland wieder einen Kaiser, und wenn man bisher noch nicht begonnen hat, über Natur und Neigungen desselben sich auszubreiten, so unterblieb dies weniger wegen der bereits früher so oftmaligen Biographieen, als wegen jener Trauerfeierlichkeiten, unter deren seelischer, plastischer und coloristischer Wirkung die Kerzen wie der Schönheitssinn gegenwärtig noch stehen.
Wir wissen, daß fugend und Jünglingsalter öes neuen Herrschers in eine Zeit fielen, wo Vielseitigkeit des Wissens bis in die höchsten Rangstufen der Gesellschaft hinauf als nothwendige Bildungspaarung angesehen wurden. Somit ist auch Kaiser Friedrich in den Besitz der verschiedenartigsten geistigen Interessen gelangt, deren verweichlichenden Folgen nur durch das gleichzeitige Exerzier-Reglement — der alte Erziehungsbrauch im Hause Hohenzollern — auszugleichen war. <£s erscheint ganz gewiß, daß aus dem heutigen preußischen Königsthrone keine geringere Bildung Platz genommen hat, als s. Zt. unter dem genialen (!), doch unsicheren Friedrich Wilhelm IV., aber ebenso gewiß erscheint es, daß militärisches Wissen und in einem gewissen Sinne auch militärisches Können neben jener Bildung sehr deutlich zu erblicken ist.
Wir richten uns weder nach Kupferstichen, noch nach Schulbüchern und sehen auch Prinzen keineswegs für Feldherrn an, wenn sie hoch zu Roß und den Pulverdampf wie durchschneidend, dargestellt werden. Wir wissen, daß von allen deutschen Prinzen, die (866 und 70 Rollen als Heerführer hatten, nur der Prinz Georg v. Sachsen, der heutige König, ein wirkliches strategisches Talent geäußert hat; immerhin ist es schon piel, wenn man ein guter Lieutenant Moltke's war und in solcher Gestalt hat es die Geschichte aufzubewahren, daß der damalige Kronprinz Friedrich Wilhelm es war, dessen, rechtzeitig ein- Ireffende Armee die Schlacht bei Königgrätz entschied und dessen Heer auch im Franzosenkrieg Lorbeeren auf Loorbeeren häufte. Das Bedeutendste, was aus jenem Kriege von ihm bekannt ist, betrifft die That- sache, daß ihm bei Wörth, wo das Blut unserer Braven in Strömen floß, die Hellen Thränen in den Augen standen; ein Zug der höher kommt als alle
heldenhaften Härten, die man von den meisten Feldherrn in Anecdotenbüchsen zu conserviren pflegt.
Dieses Gemüthvolle (das in spätern Zähren auch bei seinem Vater so oft hervortrat und den eigentlichen Ausgangspunkt für die diesem zu Theil gewordenen Sympathieen bildete), soll aber auch er- wägenderen Stimmungen zuweilen Platz machen, und Nichts könnte hierfür bezeichnender fein, als die Worte, die das Gerücht ihn bei Ansicht des Schilldenkmals in Stralsund seiner Zeit sagen ließ: — „Ungehorsamer Offizier!"
Wer überhaupt jemals geglaubt hat, daß die vielleicht ganz liberale Natur des neuen Kaisers sich auf Gebieten fortsetzen werde, wo ein Preuße sich zu discipliniren pflegt, der hat keine Ahnung davon, daß im Großen die Verhältnisse immer stärker sind, als die Menschen.
Darf man doch hinsichtlich der Regierungsfestigkeit des Kaisers nicht vergessen, daß derselbe jetzt 57 Jahre zählt und seit mehr als zwei Decennien im Vordergründe der Politik steht. Er war gar oft in der Lage, seine eigenartigen Anschauungen zum Ausdruck zu bringen, und dieselben fanden viele Beachtung, nicht allein, weil sie dem Erben eines großen Thrones angehörten.
Blättern wir zurück, so finden wir den damaligen Kronprinzen als Gegner des Tonflictes und auch Gegner vielleicht (!) der preußischen Erweiterungspolitik. Nach Königgrätz soll aber die Stimmung umgeschlagen sein und Graf Bismarck viele Mühe gehabt haben, die allzugroßen annexio- nistischen Neigungen der Generale, zu denen nun noch ein so mächtiger Factor trat, zu paralyüren. Damals soll es sich um Nordböhmen gehandelt haben, sowie auch um Sachsen, dessen Provinzen einzelweise mehr nach Preußen grapitirten. Daß damals Gustav Freitag besonders dazu ausersehen gewesen sei, in der Gegend von Leipzig die Stimmung zu sondiren, ist oft erzählt, aber nie erwiesen worden.
Auch der inneren Entwicklung des Bundes wandte sich der Kronprinz mit regem Interesse zu und wie consequent derselbe sich oft blieb, zeigt seine Stellungnahme gegen die Todesstrafe. Augenzeugen erinnern sich noch, ihn in der Fürstenloge des Reichstages gesehen zu haben, als die berühmte Debatte über die Abschaffung der Todesstrafe stattfand — mit wie hohem Interesse er den stundenlangen Ausführungen Laskers folgte und wie abweisend er sich dannzum Gehen erhob, als der nachher zu verschiedenen Gründungen eingegangene Regierungsrath Wagner für die Todesstrafe sprach. Und über (0 Jahre weiter, als der Kaiser an einem meuchelmörderischen Schüsse darnieder lag und sein Sohn als Stellvertreter