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Beines stattgefunden, die erst heute Morgen, als der Knabe losgebunden wurde, bemerkt wurde. Das Bein ist inzwischen stark angeschwollen, aber der Sanitätsrath langen hat die übertriebenen Befürchtungen, mit denen der Doktor Thuler uns beängstigt, widerlegt."
„Da wünsche ich von Herzen Glück, Herr. Graf. Verzeihen Sie mir, aber ich hätte an Ihrer Stelle gezittert, daß das während der Nacht im Keller eingeschlossene Kind vor Angst sterbe!"
„Der Bube hat keine Gespensterfurcht, und wer im Dunkeln sich in fremde Gärten wagt, für den ist auch Arrest im Dunkeln nicht zu hart. Der Doktor Thuler ging noch weiter, er nannte sogar die Züchtigung barbarisch. Aber wo das Schmerzgeschrei keinen Maßstab mehr gibt, weil der Junge sich verstellt, wo die Bosheit trotz strenger Strafen eher zu- als ab- nimnlt, da kann es selbst einem Vater in der Leidenschaft passiren, daß er sich sagt, lieber keinen Sohn, als einen, der aus abschüssigen Pfaden wandelt. Ich würde mir selber lieber eine Kugel durch den Kopf jagen, als Schande ertragen, und das fordere ich auch von meinem Sohne."
Wieneck verabschiedete sich mit dem Eindruck, daß der Oberst die letzte Aeußerung nicht ganz ohne Nebenabsicht gethan, als habe ihn das Bedürsniß, seine Denkungsweise zu erkennen zu geben, damit Jeder, der ihn etwa angreifen wolle, überlege, ob er's auf's Aeußerste ankommen lassen wolle, zu dieser Erklärung gedrängt. Wer Jemand angrifs, der entschlossen war, sich lieber zu tödten, als Schande zu erdulden, der mußte sich darauf gefaßt machen, daß der Angegriffene kein Mittel scheuen werde, den Gegner zu vernichten, ehe er selber einen Akt der Verzweiflung beging.
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Karl v. Borken hatte es schon durch eine zufällige Begegnung mit dem Sanitätsrath Langen, den er nach dessen Rückkehr aus Friedenthal in D. traf, erfahren, auf welche barbarische Weise Graf Gottel-Forbeck seinen Knaben gezüchtigt, als ein Brief seiner Mutter eintraf, dem ein Billet vom Obersten beigelegt war. Der Leser wird es schon aus der Vorstellung, welche Karl seiner Mutter gemacht, als diese die Nachfrage der Damen des Obersten nach dem Befinden der verletzten Magd schroff zurückgewiesen, ersehen haben, daß Karl durch die herben Erinnerungen sich nicht zu jener leidenschaftlichen Bitterkeit Hinreißen ließ, die seine Mutter hatte unbillig handeln lassen, sondern daß er die Person des Schuldigen von seiner Umgebung trennte. Nach den Schilderungen seiner Mutter hatte er sich den Grafen Forbeck als einen stolzen, gefühllosen, hoch- müthigen Mann vorgestellt; er hatte daraus, daß der Oberst, der allen Honoratioren von Friedenthal seinen Besuch gemacht und dabei allein die ihm zunächst wohnende Frau v. Borken unberücksichtigt gelassen, den Schluß ziehen müssen, der Oberst wisse, daß Frau v. Borken die unglückliche Mutter des erschossenen Otto v. Borken sei. Der Doktor durfte also mit Recht annehmen, daß eine Beschwerde über den ungerathenen Knaben bei dessen Vater nicht viel helfen werde und es erschien ihm unerhört, daß der Oberst nicht dafür besondere Sorge getragen, daß von seinen Angehörigen Alles vermieden wurde, einen Konflikt mit Frau v. Borken herbeizuführen.
Die Haltung, die der Oberst ihm gegenüber angenommen, hatte denn auch sein Urtheil bestätigt und rhu zum schroffsten Auftreten gereizt, so oft er aber nachher die Details des Vorfalles überdachte, überkam ihn doch ein peinliches Gefühl; er bereute, daß er die Comtesse nicht freundlicher behandelt, und dieser Vorwurf, den er sich machte, wurde beschämend, als er hörte, daß ihre Angst nur zu begründet gewesen.
Karl v. Borken stand in der Mitte der Dreißiger. Es war nicht nur schon lange der Wunsch seiner Mutter, sondern es hätte sogar in seinem Interesse gelegen, daß er sich verheirathe, die große Mehrzahl der Frauen scheut sich ja, einem ledigen Arzte ihre Leiden zu klagen. Karl war aber auch nichts weniger als gegen die Wirkung weiblicher Reize gefeit, er hatte sogar eine leidenschaftliche Liebe im Herzen getragen, aber der Gegenstand derselben war schon zu der Zeit, wo Amors Pfeil ihn getroffen, von dem dunklen Engel als Beute ersehen, die duftig sich entfaltende Menscheublüthe hatte der Hauch des erbarmungslosen Dämons getroffen, der gerade seinen Opfern die schönsten Farben einer fast überirdischen Verklärung verleiht. Die Erkorene Karl's war an der Schwind- . sucht hingewelkt, und Jahre vergingen nach ihrem Scheiden von der Erde, ehe er überhaupt wieder fähig wurde, an die Möglichkeit seiner Verbindung mit einer Anderen zu denken.
Inzwischen aber war Karl v. Borken ein reifer Mann geworden, sein Blut floß ruhiger in den Adern, die rasche Empfänglichkeit der Jugend war dahin, und gerade als Arzt hatte er Gelegenheit gehabt, tiefer in die Verhältnisse des ehelichen Glückes seiner Patienten zu blicken, als mancher Andere. Er sah, wie selten das wirkliche Glück dem äußeren Scheine entsprach,
Das Buch für Alle.
wie selten Aufopferung und Hingebung der Gatten gegeneinander mit den Phrasen darüber harmonirte, und das Schreckgespenst, ebenfalls eine Enttäuschung erfahren zu können, stand ihm drohend vor Augen. Gerade der Arzt, welcher nur wenig Muße für häusliche Freuden hat, dem muß eine nicht völlig glückliche Ehe schon unerträglich werden, und gerade von seiner Frau wird die größte Entsagung gefordert, denn jede Zerstreuung, jedes Vergnügen,. jede häusliche Freude muß zurücktreten, wenn ihn die Pflicht abrnst.
Karl war aber auch ein berühmter Arzt geworden, er hatte ein brillantes Einkommen, eine hochgeachtete Stellung, er war eine vorzügliche Parthie, und es trachteten nach ihm nicht nur Damen, deren Zukunft noch unsicher, sondern auch solche, die nach äußerem Glanze dürsten, die mit dem Titel und Namen ihres Gatten Staat machen wollen. Endlich aber sah er auch begehrende und verheißende Blicke von jungen Mädchen auf sich geheftet, deren Dankbarkeit er sich durch eine glückliche Kur erworben und die vielleicht selber nicht wußten, in welchem Maße sich bei ihnen Dankbarkeit gegen den Arzt mit Neigung zu der Persönlichkeit desselben verschmolzen.
Die Nothwendigkeit, sein Benehmen stets derart zu regeln, daß er nicht, ohne es zu wollen, Illusionen erweckte, machte Borken vorsichtig im Verkehr mit Familien, in denen sich heiratsfähige Töchter befanden, und diese Vorsicht artete denn auch leicht, wie es ihm bei Wienecks ergangen war, zur Schroffheit aus. Hatte er aber dort nur die Familie im Allgemeinen durch Ablehnen des intimeren Verkehrs verletzt, so hatte er die Comtesse Forbeck mit einer geradezu unhöflichen Schroffheit behandelt und er hatte hier nicht die Entschuldigung vor sich selber, daß er damit einer Enttäuschung der Dame Vorbeuge.
Er hatte in der Dunkelheit die Züge Cilly's kaum genau betrachten können, in seiner Erregung hätte er dazu auch nicht die Laune gehabt, aber seltsam, es war ihm, als müsse die junge Dame schön und begehrens- werth sein, die ihn angesprochen, um für ihren Bruder zu bitten.
Was mußte sie von ihm denken! Sie mußte ihn für einen rohen, boshaften Menschen halten, der an einem Knaben seine Rache gegen dessen Vater ausließ und der sich vielleicht jetzt darüber freute, daß der Vater den Knaben in der Leidenschaft beinahe für's Leben unglücklich gemacht. Langen hatte es Karl nicht verschwiegen, daß Thuler den Oberst zuerst auf ihn aufmerksam gemacht, daß Forbeck sich aber geweigert, Borken zu rufen. „Ein gefährlicher Mensch, der Oberst," hatte Langen gesagt, „er magZich vorsehen, daß er im Jähzorne nicht einmal ein Verbrechen begeht. Aber daß er nach einer so barbarischen Züchtigung sein Kind noch die Nacht über im Keller zu lassen vermochte, daß er nicht einmal nachsah, ob er den Knaben beschädigt, das deutet auf einen entsetzlichen Charakter, auf eine fast bis zum Verbrechen düstere Unbeugsam- keit. Und dieser Mann hat eine zarte Frau, eine Tochter, die mich alten Burschen verliebt machen könnte."
Das Wort des Sanitätsrathes siel wie ein Saatkorn auf frisch bearbeiteten Boden, aber Karl's neugieriges Interesse sollte noch in anderer Weise auf das Lebhafteste angeregt werden.
„Lieber Karl," so lautete der Brief seiner Mutter, dessen wir oben erwähnten, „das beiliegende Billet des Obersten wird Dir meine Sinnesänderung erklären. Nie hätte ich geglaubt, daß dieser Mann, der mir Beweise seltener Gefühllosigkeit und unbeugsamer Härte gegeben, sich zu einem Schritte, wie er ihn hier gethan, bewegen lassen könne. Geheimrath Wiencck war heute bei mir und sagte dieses Resultat mit einer Bestimmtheit voraus, die mich befremdete. Er eröfsnete mir, daß Graf Forbeck ein Sohn des Präsidenten, späteren Ministers v. Gottel sei, dessen Du Dich noch erinnern wirst. Ich hege den starken Argwohn, daß Wieneck Mittel in Händen hat, den Grafen Gottel-Forbeck gefügig zu machen, denn was er mit unbegreiflicher Zuversicht versprochen, ist geschehen. Ich bin genöthigt, meine Zusage Wieneck gegenüber nun auch zu halten und bitte Dich, die Klage zurückzunehmen, falls Du sie schon anhängig gemacht hast."
Das Billet Gottel-Forbeck's, nach welchem Karl jetzt mit gespannter Neugierde griff, lautete wörtlich folgendermaßen:
„Gnädige Frau!
Vom Herrn Geheimrath v. Wieneck erfahre ich, in welchen Beziehungen mein seliger Vater zu Ihnen und zu Ihren Angehörigen gestanden. Hätten Sie mir an jenem Tage, wo das strenge Gebot der Pflicht mich nöthigte, das Urtheil des Standrechts gegen Ihren unglücklichen Sohn vollstrecken zu lassen, gesagt, daß Ihr Herr Vater als Opfer seiner Pflichttreue gefallen, so hätte ich vielleicht den jedenfalls vergeblichen Versuch gemacht, Fürbitte beim General Grafen Forbeck einzulegen, zweifellos aber würde ich Ihnen meine Theil- nahme ausgedrückt haben. Die Trnppenbefehlshaber hatten den strikten Befehl, durch Exempel der Strenge der umsichgreifenden Bewegung einen Damm entgegenzu-
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setzen; Ihre Angabe, daß der Verurtheilte der Sohn eines alten Offiziers sei, vergrößerte in meinen Augen die Schuld Ihres Sohnes, da bei ihm die Verführung die Grundsätze erstickt, welche ihm die Erziehung in's Herz gelegt haben mußte.
Ich weiß sehr wohl, daß meine Rechtfertigung ein Mutterherz weder trösten noch versöhnen kann, aber ich beklage es, daß das Schicksal damals gerade mich dazu ersehen, daß die trübsten Erinnerungen einer Dame, die mein Vater hochgeachtet, sich mit meiner Person verflechten mußten, die doch nur das zufällige Werkzeug des Gesetzes war. Ich muß mich aber vor Allem dagegen verwahren, daß der Verdacht auf mich fallen könnte, als wäre Ihr Unglück mir nicht heilig gewesen, und ich muß ausdrücklich erklären, daß ich nur in der Leidenschaft, als Ihr Herr Sohn mir vorwarf, ich könne Nachsicht gegen meinen Sohn üben, in der Erregung darüber, daß mein Kind meiner Gewalt entrissen wurde, Worte ausstieß, die ich nicht vertreten mag und nicht vertreten kann.
Ich bitte wegen dieser Worte um Verzeihung. Ich hatte kein Recht, eine mir fremde Dame und deren Angehörige dessen zu verdächtigen, daß sie für einen alten Groll Rache suchten, am wenigsten aber hätte ich einen solchen Argwohn fassen können, wenn ich gewußt, daß Sie die Tochter des verstorbenen Rendanten Bergmann sind.
Ich halte es für eine Pflicht gegen mich selber, Ihnen, gnädige Frau, diese Erklärung schriftlich zu übermachen, ich beabsichtige damit nicht auf die Schritte einzuwirken, die Ihr Herr Sohn ergreift, Ihnen Genugtuung für alle Unbill zu verschaffen, die Sie durch meinen Sohn erlitten. Ich weise jede Schonung desselben zurück, aber es würde mir eine hohe Befriedigung gewähren, wenn Sie in Zukunft, falls meine Sorge es nicht verhindern kann, daß Ihnen die geringste Belästigung durch meine Angehörigen oder durch meine Leute wird, Ihre Beschwerde darüber mir zustellen wollten.
Ich hoffe jedoch, daß es mir gelingen wird, Ihnen meine Nachbarschaft in keiner Weise unangenehm zu gestalten, und indem ich Sie bitte, die Entschädigung für die verletzten Personen Ihrer Bedienung, sowie für den in Ihrem Garten angestellten Schaden selber festsetzen zu wollen, Ihrem Herrn Sohne auch von meiner Erklärung Kenntniß zu geben, zeichne ich mit vollkommenster Ehrerbietung
Ihr gehorsamster
Graf Gottel-Forbeck."
Ein solches Schreiben entsprach nicht der Charakterschilderung Langen's von: Obersten, es ließ Forbeck auch in anderem Lichte erscheinen, als Frau v. Borken denselben ihrem Sohne dargestellt, und Karl konnte es nur dem alten Vorurteile seiner Mutter zuschreiben, wenn diese geneigt schien, es durch ein Geheimniß zu erklären, in dessen Besitz Wieneck vielleicht sei, daß der Oberst sich so nachgiebig zeige.
Jähzornige Menschen bereuen ihre Thaten fast immer, wenn die Leidenschaft verraucht ist, es folgt dann, um uns eines volkstümlichen Vergleiches zu bedienen, die Scham der That, wie der Katzenjammer dem Rausche, und in weicher Stimmung erbietet sich der Mensch zu jeder Buße. Es erschien Karl nichts erklärlicher und natürlicher, als nach dem Wortlaute des Briefes alles Geschehene zu beurtheilen. Der Oberst hatte als junger Mann, als er die Exekution gegen Otto v. Borken kommandirt, geflissentlich die rauhe Seite hervorgekehrt, um sich gegen Gefühle zu panzern, die mit seiner Pflicht nicht harmonirten, und das war verzeihlich. Er hatte gestern in der Erregung darüber, daß man ihn fälschlich für schwach gegen einen ungerathenen Sohn hielt, mit einem naheliegenden Argwohn geantwortet, es erschien Karl höchst ehrenwerth, daß der stolze, hochgestellte Mann sich in dieser Weise demüthigte, und wie eine edle Natur durch derartiges Entgegenkommen immer erwärmt und zu weicheren Gefühlen angeregt wird, erschien es dem Doktor jetzt unbillig und ungerecht, daß seine Mutter dem Werkzeuge der Reaktion nicht verzeihen wollte, was er in soldatischem Gehorsam gethan.
Karl hatte die Klage noch nicht eingereicht, da er erst vom Vorstande von Friedenthal die Angaben der Sachverständigen erwartete, er beschloß, sich sofort zu Wiesel zu begeben, obwohl er über den Abend schon anders disponirt, um dort die eingeleitete Untersuchung Niederschlagen zu lassen.
Wiesel lächelte eigentümlich, als der Doktor v. Borken bei ihm vorsprach und sein Anliegen vortrug.
„Also doch," sagte er, wie mit sich selber redend, „ich hätt's nicht geglaubt."
„Sie scheinen darüber verwundert," fragte Borken befremdend, „daß ich ein höfliches Entgegenkommen nicht zurückweiseGestern schienen Sie anderer Ansicht."
„Ich freue mich, Herr Doktor, aber ich begreife nur nicht, wie Herr v. Wieneck das zu Stande gebracht."
„Woher wissen Sie, daß Herr v. Wieneck der Vermittler gewesen ?" fragte Borken betroffen.