Heft 4.
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„Das wußten wir im Bahnhofs-Restaurant schon heute Mittag. Die Geheimräthin Wolf hat ihrem Gatten erzählt, daß die Geheimräthin v. Wieneck ihr gesagt, sie wollte sich dafür verbürgen, daß die ganze Geschichte beigelegt werde, der Graf werde um Verzeihung Litten."
„Dann ist ein guter Wunsch zufällig in Erfüllung gegangen. Wissen konnte die Frau v. Wieneck wohl noch nichts."
„Meinen Sie?" fragte Wiefel geheimnißvoll lächelnd. „Dann sind Sie der Einzige, der die Nachgiebigkeit des Obersten nicht sehr befremdlich findet. Wieneck hat seinen Erfolg vorhergesagt, aber wer den Obersten nur einigermaßen kennt, der hielt's für unmöglich. Aber es scheint wahr zu fein, was die Leute flüstern, daß Wieneck etwas aus der Vergangenheit des Grafen weiß — nun, es wird ja auch das an den Tag kommen."
Borken brach das Gespräch mit jenem Ekel ab, den ernste Leute empfinden, wenn das leichtfertige Geklatsch frivoler Menschen die Ehre Dritter verdächtigen will. Er begab sich zu seiner Mutter, aber dort hörte er Aehnliches in noch bestimmterer Form, denn Frau v. Borken berichtete, daß Wieneck Andeutungen gemacht, die sie für Prahlerei gehalten hätte, wenn der Brief des Obersten sie nicht eines Besseren belehrt.
„Also auch Du hängst lieber dem Geheimnißvollen nach, das die Verleumdung ersinnt, als daß Du das Natürlichste glaubst!" rief Karl, der sich dagegen sträubte, daß der Argwohn auch in seiner Brust sich einniste. „Wieneck ist ein eitler Prahler und ich glaube lieber an die Ehrenhaftigkeit eines hochmüthigen Aristokraten, als an die Verleumdungen dieser aalglatten Streber, die, um die Gunst ihrer Vorgesetzten buhlend, keinen Verrath gescheut, sich empor zu arbeiten. Dieser Wieneck war das Faktotum Gottel's und später seines Nachfolgers; hat er, während die Gunst Gottels ihn aus dem Staube hob, sich Geheimnisse der Familie erschlichen, so ist er mir um so verächtlicher, wenn er
sich jetzt mit einem Einfluß brüstet, der sich doch nur
auf Infamie und Undankbarkeit gründen kann."
Von diesem Gedanken beseelt, schrieb Karl am anderen Tage dem Obersten die Antwort im Namen seiner Mutter. Es war ihm, als habe er die Pflicht, den
Mann, der so ehrlich um Verzeihung gebeten, vor
Wieneck zu warnen. Er zeigte dem Grafen nllt kurzen, höflich gefaßten Worten an, daß seine Mutter von jeder Klage abstehe, und daß auch von ihrer Seite nichts geschehen werde, was ein nachbarliches Ver- hältniß stören könne.
„Ich bedauere," schloß er, „daß, wie ich leider gestern bemerkt, im Orte über die Angelegenheit und über die Vermittlung eines Tritten in derselben gesprochen wird. Ich bin jederzeit zu der Erklärung bereit, daß es keiner Vermittlung bedurft hätte, die Angelegenheit beizulegen, da unsere Familie zu keinem persönlichen Grolle gegen Sie, Herr Graf, wie Sie solches vermutheten, berechtigt ist."
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Cilly begab sich an einem der folgenden Tage zur Bahn, um nach der Stadt zu fahren, wo sie einige Einkäufe zu besorgen hatte.
Die Pflege Kurts hatte Veranlassung dazu gegeben, daß kein Glied der Familie in dieser Zeit die Villa verlassen, auch hatte man keinen Besuch angenommen; der Oberst wußte es also allein aus dem Briefe Karts, daß über die Angelegenheit im Orte gesprochen wurde. Der Umstand, daß Karl dabei der Vermittlung durch Wieneck eine fast auffällige Erwähnung that, ließ den Obersten errathen, daß man die Vorfälle ungünstig für ihn darstelle, Borken schien sich ja dagegen zu verwahren, daß er oder die Seinigen die Gespräche verschuldeten.
Die einzige Person, mit welcher die Familie in diesen Tagen verkehrt hatte, war der Doktor Thuler, welcher nach der Konsultation mit dem Sanitätsrath Langen die weitere Behandlung des Knaben übernommen. Der Oberst hatte Thuler um diese Dienstleistung besonders gebeten, und damit war die Reibung, welche zwischen beiden Männern infolge der Aeußerung Thuler's über die Behandlung des Knaben stattgefunden, beigelegt, wenn auch nicht vergessen. Graf Forbeck hätte freilich lieber einen anderen Arzt engagirt, aber er konnte sich sagen, daß derselbe, wenn er es auch verschweige, vielleicht ebenso denke wie Thuler, und daß der Letztere, wenn man die Behandlung Kurts einem Anderen übergebe, die Sache noch mit Uebertreibungen ausschmücken werde.
Das Beste war also wohl, Thuler zu behalten und der Diskretion desselben zu vertrauen; der Oberst vermied es, mit ihm über die Angelegenheit zu fprechen, aber wenn bei Abnahme der Verbände die Spuren der Züchtigung noch fast ebenso frisch wie am ersten Tage sichtbar wurden, und die Gräfin oder die Comtesse bei deren Anblick erbebten und seufzten, war es unvermeidlich , daß der Arzt ihnen gegenüber das peinliche Thema berührte. Wie er und die Damen über die Züchtigung dachten, das brauchten sie einander nicht
Das Buch für Alle.
mit Worten zu sagen, das war aus den Blicken zu lesen, aber die Unruhe der Damen forderte Trost, und Thuler konnte es nicht verschweigen, daß die Heilung einzelner Stellen eine langwierige sein werde. Bei dieser Gelegenheit äußerte Thuler gegen die Damen, welchen guten, aber auch unerwarteten Eindruck es im Orte gemacht habe, daß der Graf versöhnliche Schritte gegen Frau v. Borken gethan. Forbeck hatte den Seinigen das Geschehene noch nicht mitgetheilt, die falsche Scham mochte ihn davon abgehalten haben, die Ueber- raschung der Damen bei dieser Neuigkeit bewies aber dem Arzte, daß es nicht, wie er vermuthet, der Einfluß der Frauen gewesen, der den Obersten zur Nachgiebigkeit veranlaßt hatte, und daß somit Diejenigen Recht zu behalten schienen, welche behaupteten, der Oberst müsse thun, was Wieneck fordere.
Sobald der Arzt sich entfernt, hatten Adele und Cilly in der Freude ihres Herzens darüber, daß Forbeck feinen Stolz bezwungen, den Obersten umarmt, fast noch nie hatte Cilly ihren Vater so zärtlich angeschaut, als in dem Moment, wo sie die Ueberzeugung gewonnen, daß das Gerechtigkeitsgefühl über feinen Hochmuth triumphiren könne, und befriedigt darüber, daß die Seinigen seiner Handlungsweise diese Erklärung unterschoben, hatte Forbeck ihnen den Brief des Doktors gezeigt.
„Ich freue mich," so hatte er sich geäußert, „daß ich keinem Unwürdigen mit Nachgiebigkeit entgegengekommen. Ich wagte es diesmal, meinen Grundsätzen ungetreu zu werden, theils weil besondere Verhältnisse mich dazu veranlassen konnten, besonders aber, weil ich meines Urtheils über den Charakter der betreffenden Personen nicht sicher war. Der Erfolg stellt mich Zufrieden, der Doktor v. Borken scheint mir ein Ehrenmann zu sein."
„Mir gefällt besonders," rief Cilly, den Brief nochmals überlesend, „daß er sich dagegen verwahrt, über die Sache gesprochen zu haben, es ist schändlich, daß man Privatangelegenheiten in die Oeffentlichkeit trägt. Sollte Herr v. Wieneck selbst darüber gesprochen haben, daß er Dir Vorstellungen gemacht?"
„Wahrscheinlich, und was er nicht gethan, wird seine Frau besorgt haben, sie ist ja wegen ihrer Geschwätzigkeit verrufen."
„Dann hätten wir doch besser gethan, den Leuten keinen Besuch zu machen," sagte Cilly, „obwohl mir Fräulein v. Wieneck sehr gefallen hat."
„Wenn wir uns bei dem Gegenbesuch der Familie verleugnen lassen und keine Einladung annehmen," bemerkte Adele, „so ist der Verkehr mit ihnen so gut wie abgebrochen."
Graf Forbeck warf seiner Frau einen finsteren Blick der Unzufriedenheit zu.
„Ich sagte Dir," lautete feine in gereiztem Tone gegebene Antwort, „daß wir alter Beziehungen halber die Leute rücksichtsvoll behandeln müssen, hast Du das vergessen? Wir werden mit ihnen verkehren, ich habe Mar geschrieben, daß er gelegentlich die Bekanntschaft des Lieutenants v. Wieneck zu machen sich bemühen soll. Um so besser, wenn Cilly von der Tochter Wieneck's sich angesprochen fühlt. Man muß hier in dem kleinen Orte die Leute nehmen, wie sie find."
Damit war das Thema erledigt, der Ton Forbcck^s verrieth, daß er keinen Widerspruch dulde, die Frauen waren aber daran gewöhnt, sich in seinen Willen zu finden, wenn er so bestimmt ausgesprochen wurde.
Als Cilly sich heute zur Bahn begab, fiel es ihr auf, daß einzelne Personen auf dem Bahnhofe bei ihrem Erscheinen die Köpfe zusammensteckten, als ob sie sich flüsternd mittheilten, wer sie sei, und ihre Person zum Gegenstände des Gespräches machten. Sie stieg in ein Damencoupö, die Mitreisenden waren ihr völlig unbekannt und plauderten über alltägliche Dinge, da bemerkte eine Dame plötzlich, sie habe gehört, der unglückliche Knabe befinde sich in Lebensgefahr.
Die Dame nannte keinen Namen. „Es ist unerhört," versetzte eine andere Dame, „daß die Polizei nicht gegen unnatürliche Väter einschreitet, die anstatt ihre Kinder zur Ordnung zu erziehen, dieselben mißhandeln."
Cilly's Antlitz färbte sich purpurn, aber sie wagte nicht das Gespräch zu unterbrechen, es war ja möglich, daß man von anderen Leuten sprach, j „Mich amüsirt bei der Sache die Prahlerei der Geheimräthin," bemerkte die erste Dame. „Die Frau thut, als habe ihr Mann nur zu kommandiren und Alles müsse nach seiner Pfeife tanzen."
„So ganz ohne Halt scheint ihr Prahlen nicht zu sein," versetzte die zweite Dame, „man erzählt sich Allerlei. Der Oberst soll in seiner Jugend sehr aus- schweisend gelebt haben, und —"
„Meine Damen," unterbrach Cillv bebend vor Erregung das Gespräch, „Sie sprechen öffentlich über Personen, die Sie nicht zu kennen scheinen, der Oberst Graf Gottel-Forbeck ist mein Vater."
„Verzeihen Sie! O, wir bitten um Entschuldigung!" riefen die Damen erschreckt, aber auch mit allen Zeichen der Neugierde sich zu der von ihnen bis dahin nicht beachteten Mitreisenden wendend. „Wir nannten keinen
Namen! — Es war auch nicht böse gemeint. Wir sprachen nur über Dinge, die überall erzählt werden. Es wird freilich in Friedenthal sehr viel geklatscht und gelogen."
So versuchten die Damen sich zu _ entschuldigen. „Die Geheimräthin Wieneck," fuhr die erste Dame fort, als Cilly nicht antwortete, „ist dafür bekannt, daß sie selten vertritt, was sie erzählt hat. Sie wünscht nichts sehnlicher, als daß der Doktor v. Borken ihr Schwiegersohn werde, und deshalb hat sie seine Partei gegen Ihren Herrn Vater so lebhaft ergriffen. Wir glauben gewiß nichts Schlechtes von einem so hochstehenden Manne, wie Ihr Herr Vater es ist."
„Gewiß nicht," betheuerte die andere Dame. „Die Verleumdung hängt gerade den Edelsten etwas an."
„Ich wünschte nur ein Gespräch abgebrochen zu sehen, das nicht für meine Ohren bestimmt war," antwortete Cilly kühl, „es bedarf keiner Entschuldigungen."
Damit wandte sie sich zum Fenster. Die beiden Damen hatten eine solche Abfertigung nicht erwartet und bereuten es vielleicht schon, Entschuldigungen gemacht zu haben, da sie den Zweck, von Cilly Näheres zu hören, nicht erreichten. Sie setzten ihre Unterhaltung in flüsterndem Tone fort.
Cilly war froh, das Coupö verlassen zu können, als man bald darauf D. erreichte. Zum ersten Male in ihrem Leben hatte sie die Klatscherei in ihrer häßlichsten Gestalt und zwar gegen ihren Vater gerichtet, kennen gelernt, es hatte der Gedanke, daß sie wahrscheinlich noch Schlimmeres zu hören bekommen, wenn sie sich nicht genannt, etwas unendlich Niederschlagendes. Das Schlimmste war, daß sich Lüge mit Wahrem vermischte, sie glaubte es nicht, daß ihr Vater jemals einen tadelns- werthen Lebenswandel geführt, es mußte ihr daher entsetzlich sein, daß die Leute derartige Gerüchte erfanden und verbreiteten, um seine Handlungsweise zu erklären.
In dieser Verstimmung traf sie ihren Bruder, der sie auf dem Bahnhof erwartete.
Mar v. Forbeck, nur wenige Jahre älter als feine Schwester, hatte ein sehr ansprechendes Aeußere. Abgesehen von der bei einem so jungen Offizier noch zu entschuldigenden, etwas zu stark hervortretenden Eitelkeit, machte sein frisches offenes Antlitz, wie sein ganzes Wesen einen durchaus angenehmen Eindruck. Die Schwester war überrascht, ihn zu sehen, Cilly hatte ihm zwar geschrieben, daß sie nach D. komme, aber sie hatte ihn erst nach Beendigung ihrer Einkäufe treffen wollen, er erklärte ihr, daß er zu der von ihr angegebenen Zeit Dienst habe und sie daher jetzt aufsuche.
„Ich wollte es nicht versäumen, Dich zu sprechen," sagte er, „denn vielleicht werde ich auch am Sonntag behindert sein, nach Friedenthal zu kommen, sage mir um Gottes willen, was hat der Vater gethan, ich werde von allen Seiten gefragt — ist es wahr, daß Kurt bei einem Diebstahl einer Magd ein Auge ausgeschlagen, daß er verhaftet gewesen, und daß der Vater ihm ein Bein zerschlagen? Ich wollte schon schreiben, da kam Dein Billet."
„Was Du gehört," antwortete Cilly, „ist gottlob ungeheuer übertrieben, aber woher wissen hier die Leute davon?"
„Gott weiß es, aber gestern Abend auf der Ressource wurden schon Fragen an mich gerichtet, die mich errathen ließen, daß etwas Besonderes vorgefallen, ich konnte es bestreiten, da in dem Briefe, den mir der Vater geschrieben, nichts gesagt war, als daß Kurt ihm wieder Aerger bereitet. Heute Morgen aber beim Exerciren fragte mich der Major über die Gerüchte, die ich Dir genannt, meine Kameraden wollten noch Schlimmeres gehört haben."
Cilly erzählte, was sich zugetragen. Da viele Bewohner von D. Sommerwohnungen in Friedenthal hatten, so war es erklärlich, daß Gerüchte, die man im Coupo der Bahn besprochen, sich auch in D. verbreitet hatten, aber Max schüttelte den Kopf, als Cilly bemerkte, Genaues könne eigentlich Niemand wissen, da der Hauptbetheiligte, der Doktor v. Borken ebenso wie dessen Angehörige Diskretion bewahrt hätten.
„Darin wirst Du Dich wohl irren," versetzte Mar, „Gerüchte aus Civilkreisen dringen nicht so rasch in die Kaserne — aber der Doktor v. Borken hat gestern eine Operation im Hause des Hauptmanns Gall von unserem Regiment vollzogen, und da ist mir Alles erklärt, Gall war einige Zeit auf der Ressource und hat sicherlich die Gerüchte kolportirt."
„Das wäre infam, das kann ich nicht glauben," rief Cilly. „Es konnte Niemand von ihm verlangen, daß er über die Sache schweige, und es hat mir von ihm gefallen, daß er sich dagegen verwahrte, Gerüchte ausgesprengt zu haben, hätte er aber das gethan und noch dazu die traurigen Unfälle übertrieben - so wäre das ehrlos."
„Vielleicht hat er durch seine Erklärung dem Vorwurf zuvorkommcn wollen, daß er sich durch Verleumdungen gerächt und er wird das Letztere ableugnen. Doch an dem Geschwätz der Leute ist nichts gelegen, wenn die Sache selbst nicht wahr ist. Ich bin froh, daß Du mich darüber beruhigst. Du nanntest vorhin den Namen Wieneck. Der Vater schreibt mir, ich solle