Weltliteratur

Schriftleitung: Dr. HELLMUTH LAN GEN BUCH ER

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Romane, Erzählungen unö Ge­dichte aller Zeiten und Völker

Monatlich ein Heft n Bezugspreis» durch die Port vierteljährlich 90 Rpf. und 6 Rpf. Bestellgeld. Im Buch- und Zeitschriften­handel 90 Rpf. n Kreuzband» erfand ulcrtel)ährlidi 15 Rpf. n Herausgeber: Franz Luörolg Habbel n Wiking Verlag GmbH., Berlin W 9, Eichhornftraße to

Nr.t3 Berlin Ohtobcrl936 30 Rpf<

HERMANN STEHR: Der Schimmer Öes Assistenten

Der Besuch * Der Inspektor

öuekbespreckungen * Aus der Weit des Schrifttums

Hermann Stehr wurde geboren am 16. Februar 1864 in Habel- sehwerdf (Grafschaft Glotz) und genoß in seiner Vaterstadt und Bad Lanöeck die Ausbildung zum Volkssehullehrer. Als solcher war er unter anderem in Pohldorf und Dittersbach tätig; er ließ sieh ign wegen eines Ohrenleidens pensionieren, zog 1915 nach Bad Warmbrunn, 1924 nach Oberschreiberhau und lebt dort als freischaffender Künstler. Äußere Ehrungen: Fostenrath-, Bauern­feld-, Schiller- und Goethepreis; Wartburgrose, Goethemedaille Adlerschild des Reiches (19^4), Or. phil. n. c. der Universität Breslau. Mitglied des Reichskultursenats.

Im Februar 1864 wurde einem Sattlermeister einer kleinen Gebirgsstadt im Südosten Deutschlands sein fünftes Kind geboren. Die Mutter war allein mit der greifen Wehhelferin in dem kleinen Schlafzimmer neben dem noch kleineren Laden. Die anderen Kinder schliefen in einer oberen Stube. Der Vater befand sich mit Gesellen und Lehrlingen auf der Arbeitgreise. Um zwei in der Frühe, als die Hähne des kleinen Äckerstädtchens zum ersten verschlafenen Morgenruf sich gedrängt fühlten, löste sich das Kind mühsam von der Mutter und lag, ein dürftiges, winziges Knäblein, das sich kaum rührte, in den Händen der Hebamme, die in der Meinung, es sterbe, es sogleich zu schlagen begann, bis ein leiser Laut, hoch und sanft wie ein Sing­ton, die alte Haschmutter überzeugte, daß der winzige Anköinmling wenigstens Fuß gefaßt hatte in diesem Erdenleben. Dann aber ver­fiel er schnell. DasTotenkränzlein" trat an seinem Kopf so deutlich zutage, daß die Hebamme es nottaufte, in Watte packte und in dag warme Ofenrohr schob, weil es sich kühl wie ein Sterbender anfühlte.

So begann mein Leben wie ein Sterben, mein Anfang schien mein Ende und inein Dasein ein ungeträumter Traum werden zu sollen. Aber der Glaube des Volkes, daß jene Menschen besonders fest ans Leben gekettet sind, die, gleichsam vom Tod ins Dasein geschoben, an dem ersten Atemzug bitter wie an dem letzten kauen müssen, scheint sich an mir zu bestätigen. Denn ich stehe heute als einer im 70. Lebensjahr, der gewillt ist, nicht vor dem neunzigsten auf den Abruf zu hören, wenn ich von Wackelkopf und Leierknie verschont bleibe. Dabei habe ich in meinem Leben das Glück nie anders als bei Entbehrungen kaufen können, Ehre von Mißachtung und Sicher­heit von erbittertem Kampf. Die Not war mir so treu wie die Armut, aber auch ein himmlischer Sinn, und je älter ich werde, eine immer festere Zuversicht, daß der Mensch sich nur selber schaden kann, sonst nichts auf Erden und in der Welt. Denn er selbst schasst sich die Umstände seines Sieges und seiner Niederlage, seines Aufstieges und feines Abstieges, wie sein Schicksal die Darstellung seines Wesens ist, jenes Wesens allerdings, das erfahren werden kann, während seine eigentliche Wesenheit weder Anfang noch Ende hat und Geburt und Tod nicht kennt, weil sie göttlich und ewig ist.

DER SCHIMMER DES ASSISTENTEN

Nachdem der Assistent Paul Förster monatelang in ängstlich leidenschaftlichen Erwägungen zugebracht hatte, ob er die Hoffnung erfülle, die ihn gleicherweise aus den Augen seiner Geliebten und aus dem seligen Grunde seiner eigenen Seele bedrängte, überwand er sich zur Entschiedenheit.

Er verfaßte ein Gesuch um Gehaltserhöhung und trug es persönlich in die Direktionskanzlei.

Und nun stand er im Büro des Gebietenden derGottessegen- Grube" und sah mit äußerster Gespanntheit auf dessen Gesicht, das sich tief über den großen, engbeschriebenen Bogen neigte. Der Assistent käinpsie gegen Angst und Unterwürfigkeit, deren er sich schämte, weil er wußte, daß sie ihn zusammenrucken würde, wenn der Direktor sich aufrichtete und ihn ansah. Um sich männlich durchzu­setzen, trat er mit einem unhörbaren Schritt an den langen, gelben Tisch heran, der, mit Karten, Lohnlisten und Akten übersät, die ganze Mitte des großen, kalten Raumes einnahm, lehnte sich an dessen Kante und nahm eine legere Haltung an. Denn das war ja lächerlich, er mit seinen dreißig Jahren konnte sich doch nicht wie ein junger Schreiber benehmen, wenn es momentan auch vielleicht besser war, die Selbständigkeit und Würde nicht zu sehr zu betonen.

Da richtete der Direktor seinen fetten, dichtbehaarten Weißkopf auf, rückte mit einer Hand den Bogen etwas auf dem Schreibtisch hin, fuhr sich gedankenvoll an seinen greisen Schnurrbart und sagte niit gutmütigem Bedauern:

Eine verdammte Geschichte, mein lieber Förster."

Ja, Herr Scheithauer . . . Herr Direktor," verbesserte sich der Angeredete, rückte vom Tische ab und kehrte in die alte subordinierte Haltung zurück.

Eine sehr ungünstige Zeit," fuhr der Direktor fort,die Ver­waltung ist ja mit Ihnen zufrieden. Aber sie kann mit ihrem Wohl­wollen bei der gegenwärtigen hundsmiserabeln Konjunktur nichts anfangen. Sie wissen ja selber. Eine Hütte nach der andern löscht das Feuer aus. Die Eisenbahn elektrisiert. Die Textilleute ersticken an

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